wilde perspektiven

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Samstag, 14. Oktober 2017

Eine junge Falkenraubmöwe besucht die Leybucht

Ich stand auf dem Deich und blickte sehnsüchtig hinüber nach Juist.

Hinfahren kann ja jeder, dachte ich, doch bleiben eben nicht.

Weil mir Abschied und Rückfahrt bei Inselbesuchen in der Vergangenheit immer so schwergefallen sind, habe ich mich in den letzten Jahren erst gar nicht mehr aufs Schiff gesetzt. Dann kann man besser gleich auf dem Kontinent bleiben.

Das gilt übrigens für alle Inseln vor der ostfriesischen Küste.

Ich schaute nach rechts.

Etwa hundert Meter von mir entfernt lief ein dunkler Vogel auf dem Asphalt herum. Von der Größe her glich er einer dieser Haustauben, die an völlig untypischen Orten stranden, weil sie den Weg zurück zu ihrem Schlag nicht mehr geschafft haben.  

Doch der watschelnde Gang des Vogels und das fehlende Kopfnicken schlossen eine Taube auf der Stelle aus. Ich konnte es nicht umgehen und musste das Fernglas anheben.

Und dann war ganz schnell alles klar.

Oh, dachte ich, ohoohooooo!




this young Long-tailed Jaeger showed up at Westermarsch II on 9th October 2017. After resting for an hour this confiding bird continued his journey to the southwest. All images show the same specimen

Ich sah also meine erst dritte Falkenraubmöwe (im Folgenden kurz FRM) überhaupt!

Die ersten beiden Individuen waren mir im letzten Jahrhundert auf Helgoland begegnet. Jetzt war die Freude groß, zumal der Vogel sich sehr kooperativ zeigte und ausgiebig vor meiner Linse posierte. Ohne jegliche Scheu, aber das ist für Raubmöwen ganz allgemein ganz normal. 

Der Lebensraum:

habitat of resting Long-tailed Jaeger at Westermarsch II

Man sieht die im Vergleich mit dem Asphalt deutlich helleren Wellenbrecher, den Schäfer mit einem Teil seiner Schafe sowie die Skyline von Norderney im Hintergrund.

Und genau aus dieser Richtung war ich zuvor gekommen, ohne den Vogel bemerkt zu haben! Wahrscheinlich hatte sich die Raubmöwe gerade zwischen den Wellenbrechern aufgehalten, wie sie das in der folgenden Stunde auch immer wieder tun sollte. 

Die junge FRM auf Nahrungssuche:

Leider gab es hier für die FRM absolut nichts zu essen.

Und ich hatte nur noch zwei Mehlwürmer dabei, die ich aber trotzdem einfach so spendierte. Groß war die Freude bei der kleinen Raubmöwe, doch noch viel größer ihre Enttäuschung, als sie feststellen musste, dass es nach den zwei Mehlwürmern nichts mehr zu futtern gab. Ich denke, ich hätte sie von einer längeren Rast überzeugen können, doch weitere Mehlwürmer befanden sich nur in meinem Auto. 

Und das stand in Norddeich – sechs Kilometer entfernt.

Jedenfalls machte die FRM noch eine Pause, um ihr Gefieder zu pflegen. Sie setzte sich genau dort hin, wo die Grenze zwischen Rasen und Asphalt verläuft. Und ich legte mich auf den Boden, obwohl der übersät war von Katjes-Katzenpfötchen

Von Schafskacke also.




Während sich die Raubmöwe für den anstrengenden Weiterzug präparierte, behielt sie ganz aufmerksam alles im Auge, während sie mich völlig ignorierte. 

Ständig waren da andere Vögel am Himmel, mal Stare, mal Goldregenpfeifer, mal ganz viele Seemöven, denen sie interessiert hinterherschaute, indem sie einen langen Hals machte. Auch als Raubmöwe muss man immer auf der Hut sein, vor allem als FRM, weil man doch nicht größer ist als eine Lachmöwe.

Und ein plötzlich auftauchender Sperber könnte einem jederzeit das Lebenslicht auspusten.


Die FRM ist ein Brutvogel arktischer Gebiete. 

Sie brütet quasi in der Tundra rund um den Nordpol. So zum Beispiel auch in Norwegen und dort vor allem in den Fjälls und somit abseits der Küste. Während der Brutzeit ernähren sich FRM vor allem von Lemmingen und anderen Kleinnagern, nehmen ausnahmsweise aber auch Beeren zu sich. 

Auf dem Zug und in den Winterquartieren, z. B. vor der Westküste Afrikas, sieht der Speiseplan aber ganz anders aus!

Denn dann mutiert die FRM zu einem echten und geradezu "landscheuen" Hochseevogel, der sich nun von Meerestieren wie Fischen und Krebsen ernährt. Ein Großteil der Nahrung aber wird anderen Seevögeln abgejagt. 

Geraubt, wenn man so will, weshalb Raubmöwen eben Raubmöwen heißen. 












































Die FRM ist ein unglaublich guter Flieger!

Und das muss sie auch sein, verfolgt sie doch vor allem Seeschwalben und Möwen, die soeben einen leckeren Fisch erbeutet haben. Diese werden im Fluge so sehr bedrängt und hartnäckig angegangen, dass sie ihre Beute einfach fallen lassen oder sogar hervorwürgen. Noch bevor der Fisch ins Wasser fällt, wird er von der FRM aufgefangen und verschlungen. 

Die Angst der Seevögel vor allen Raubmöwen ist nicht unbegründet. Unter Umständen können sie nämlich auch selbst zur Beute der rasanten Jäger werden. Ob das allerdings auch im Falle der doch recht zierlichen FRM gilt, weiß ich nicht. Den größeren Arten aber sollte man die Beute besser sofort überlassen, wenn einem das eigene Leben etwas bedeutet.

Oh, ein Steinschmätzer:

Northern Wheatear

Diesen sehr zutraulichen Vogel fand ich auf dem Deckwerk südlich vom Diekskiel.

Er hielt sich dort auf den Steinhaufen einer Baustelle auf und bettelte mich um Futter an. Das bekam er natürlich auch, weil ich in diesem Jahr noch keinen Steinschmätzer fotografiert hatte und das nun ändern konnte. 

"Mach den Spagat", befahl ich, "sonst gibt's nichts zu essen!"














































Also wirklich überzeugend war das jetzt nicht.















































Ich hoffe ja immer noch auf einen Wüstensteinschmätzer.

Einen männlichen, wenn's geht, und einen ganz zahmen. Aber bis der hier eintrifft und von mir gefunden wird, muss ich mich eben mit unserem "normalen" Steinschmätzer zufriedengeben.

Ein hübscher Vogel ist er ja allemal:

In Farbe:

Es war windig an diesem Tag, wie man am Gefieder sehen kann:

Inzwischen hat dieser Steinschmätzer seine Reise nach Afrika längst fortgesetzt.

Ich hoffe, er kommt dort heil an und kehrt im kommenden Frühjahr ebenso heil aus seinem Winterquartier zurück, um vielleicht am selben Ort abermals eine Rast einzulegen. Zur Brut schreiten wird er wahrscheinlich irgendwo in Skandinavien, doch reicht das Brutgebiet des Steinschmätzers tatsächlich von Ostkanada im Westen bis nach Westalaska im Osten. 

Steinschmätzer brüten also quer durch Sibirien und haben eines der größten Verbreitungsgebiete aller Vögel dieses Planeten!


Ein finales Foto:

Eine Mantelmöwe mit einer erbeuteten Maus wurde hartnäckig von futterneidischen Silbermöwen verfolgt:

when heavy storm Xavier flooded the salt meadows, Herring Gulls and Great Black-backed Gulls were hunting specifically for Voles and other small rodents, who tried to escape the water

Orkantief Xavier hat unter den Menschen in Deutschland mehrere Todeopfer gefordert. 

Darunter auch die bekannte und sympathische Journalistin Sylke Tempel, die beim Versuch, herabgefallene Äste von der Straße zu räumen, von einem umfallenden Baum erschlagen wurde. 

Auch das Leben vieler anderer Erdenbürger fand in diesen Tagen ein jähes Ende, allerdings ohne dass in den Medien darüber berichtet wurde. Wenn als Folge einer besonders hohen Tide die Salzwiesen zum ersten Mal im Herbst geflutet werden, geht es nämlich auch für die dort lebenden Kleinnager ums nackte Überleben. Verzweifelt versuchen sie, das rettende Ufer zu erreichen, wenigstens aber eine kleine Insel oder auch nur einen Pflanzenstängel, der aus dem kalten Wasser ragt. 

Was sie nicht wissen, ist, das sie bereits erwartet werden.

Zum Beispiel von dieser Silbermöwe (Bildmitte):

Hunderte Großmöwen patrouillierten an diesem Tag über den Salzwiesen und entlang des Deichs!

Es ist immer wieder faszinierend, wie schnell sich diese klugen Vögel auf neue Gegebenheiten einstellen können. Kaum eine Wühlmaus dürfte an diesem Tag davongekommen sein. Doch im nächsten Sommer werden diese possierlichen Nager die Salzwiesen vom sicheren Deich aus erneut erobern und Dank ihrer Fruchtbarkeit kaum mehr als ein paar Monate dafür benötigen. 

Erst bei der nächsten Sturmflut werden sie wieder den Massentod sterben und höchstwahrscheinlich im Magen eines Vogels enden. 

Wie diese hier im Magen einer adulten Mantelmöwe:





Das sind natürlich nur Belegbilder. 

Es war stürmisch und dunkel an diesem Tag, da kann man wirklich nicht mehr erwarten.

Interessant war übrigens auch, dass Greife wie Turmfalke und Mäusebussard offenbar nicht dazu in der Lage waren, so ganz spontan einen Nutzen aus den veränderten Bedingungen zu ziehen. Auf der anderen Seite zog es aber Tausende Stare in die Salzwiesen. Natürlich hatten die es nicht auf Nager abgesehen, sondern sehr wahrscheinlich auf flüchtende Insekten und Würmer. 

Des einen Leid ist eben des anderen Freud'. 

Diese junge Mantelmöwe, man kann es am prall gefüllten Kropf sehen, hatte bestimmt mehr als nur eine Maus verschlungen:

this young Great Black-backed Gull apparently had enough

Ich selbst kam an diesem Tag zwar mit dem Leben davon, musste aber eine heftige Niederlage einstecken. 

Ich stand im Wasser am Deckwerk, das schon geflutet war, als plötzlich aus meinem Rücken ein schwarzer Vogel mit leuchtend weißem Bürzel über dem tobenden Wasser erschien und vom Wind sehr schnell von mir weg und in die Emsmündung hinein gedrückt wurde. 

Es war wahrscheinlich ein Wellenläufer, doch weil ich den Vogel nur von hinten gesehen habe und keinen Blick auf die Unterflügel werfen konnte, kann ich eine Sturmschwalbe nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Die wurde in jenen Tagen nämlich noch deutlich häufiger in der Deutschen Bucht beobachtet als der Wellenläufer, doch aufgrund der Größe würde ich eher letzteren favorisieren. 

Jedenfalls habe ich aufgrund der Unsicherheit bei der Bestimmung auf eine Meldung bei Ornitho verzichtet.

Zum Ausgleich begegnete ich dann eben der jungen Falkenraubmöwe.

Was ist da los?




Auch Raubmöwen tauchen vor allem während und nach heftigen Stürmen im Bereich der Inseln und der Festlandsküste auf.

Als echte Hochseevögel meiden sie normalerweise den Landgang wie der Teufel das Weihwasser, doch andauernde sehr starle Winde können durchaus auch diesen ausgezeichnet an das Leben auf dem Meer angepassten Tieren zusetzen. Eine kleine Pause auf festem Grund wird dann von einzelnen Vögeln schon mal in Anspruch genommen.

Ey, was guckst du?

Vier Raubmöwen-Arten kann man in Deutschland regelmäßig sehen.

Und alle vier habe ich auch schon beobachten können. 

Die größte Art, die Skua, bislang aber erst zweimal. Einmal auf Baltrum und einmal auf Helgoland, wo ich völlig überraschend einen adulten Vogel am damals noch existierenden Aadeteich aufscheuchte. 

Die Spatelraubmöwe, das ist die zweitgrößte Art, konnte ich ebenfalls ausgiebig auf Helgoland beobachten. Im Jahr 2000 übersommerten nämlich gleich bis zu sechszehn immature Individuen auf der der Insel vorgelagerten Düne! Meist ruhten sie am Nordstrand, aber vor allem morgens konnte man sie auch bei der Jagd beobachten. Brand- und Flussseeschwalben, aber auch Sturm- und Lachmöwen wurden rasant verfolgt und um ihre Beute erleichtert. 

Die Schmarotzerraubmöwe ist die am häufigsten beobachtete Raubmöwe in Deutschland. Ihr Name spiegelt die Art des bevorzugten Nahrungserwerbs gleich doppelt wider! Sie ist mir schon auf Helgoland, auf Baltrum und Juist, aber auch in der Emsmündung begegnet.

Tja, und die zierliche Falkenraubmöwe wird in der Deutschen Bucht am seltensten festgestellt.

Alle vier Arten werden fast immer vorbeifliegend und meist auf sehr große Distanz gesehen.

Viele Menschen setzen sich vorsätzlich ans Wasser und schauen mit einem Spektiv aufs offene Meer, um die dort ziehenden Vögel zu beobachten und ihre Zahlen zu erfassen. Man nennt das Seawatching. Weil die Bedingungen oft nicht sehr gut sind (Gischt, Luftflimmern, grelles oder trübes Licht, Wellengang, Wind und eben die Distanz) ist es mit der sicheren Artbestimmung manchmal keine leichte Sache. 

Gerade bei den Raubmöwen! 

So einfach sie sich an Land und aus wenigen Metern Entfernung voneinander trennen lassen, so schwierig ist die Prozedur bei vorbeifliegenden Individuen. Unter ganz bösen Umständen muss man bei einem beobachteten Vogel sogar alle vier Arten in Betracht ziehen! Die Falkenraubmöwe zum Beispiel ähnelt in Sachen Färbung und Zeichnung vor allem der Spatelraubmöwe. Die ist zwar deutlich größer, aber ohne direkten Vergleich und auf große Distanz lässt sich dieser Unterschied oft nicht exakt einschätzen. 

Na ja, bei "meinem" Vogel war sofort alles klar. 

Bei einer praktisch nicht existierenden Fluchtdistanz ist die Bestimmung aber auch keine Hexerei.

Ein schönes Video des BTO, das alle vier Arten der Nordhalbkugel nacheinander vorstellt, könnt ihr hier ansehen: klick!

Hier turnte die FRM zwischen den Wellenbrechern herum:

Ein vorletztes Bild von diesem Vogel:

Und ein letztes:

Ich hätte so gerne noch Flugaufnahmen gemacht.

Doch leider flog die FRM nur ein einziges Mal. Und das war dann auch der Moment, als sich unsere Wege wieder trennten. Geradlinig und völlig überraschend zog der Vogel nach Südwesten ab, nachdem er wenige Sekunden zuvor noch gedöst hatte. Und falls ihr euch bis jetzt gefragt haben solltet, wann genau sich das alles zugetragen hat: Es war am Nachmittag des 9. Oktober 2017!

Schutz vor Xavier suchte und fand schließlich auch diese Lachmöwe am Strand von Norddeich:


Black-headed Gull found shelter

Eine weitere präsentierte sich mir als "aggressiver" Platzhirsch:

second

Den Beitrag abschließen darf heute aber dieser vorwitzige junge Haussperling:

House Sparrow

Gefunden und fotografiert habe ich ihn in einer Hecke am Yachthafen in Norddeich. 

Wo es nach Frittenfett und im Sommer auch nach Sonnenöl duftet und viele Menschen immer wieder etwas Essbares fallen lassen, da fühlen sich Haussperlinge in unserem ausgeräumten Land auch heute noch wohl. Insgesamt aber hat diese einst so unglaublich häufige Art längst deutlich an Boden verloren! 

Vielleicht ist der Haussperling nicht annähernd so anpassungsfähig, wie wir immer gedacht haben. Man kann in ihm einen Indikator sehen, der uns schonungslos verrät, wie es um unsere Natur bestellt ist. Denn dass sein Verschwinden vielerorts mit unserer rücksichtslosen Form der Landnutzung zusammenhängt, steht wohl außer Frage. Heute sieht man in Deutschland nur noch dort größere Trupps, wo Tiere im Freien gehalten werden, z. B. Hühner oder so.  

Will man aber wissen, wie es früher auch bei uns einmal gewesen sein muss, dann sollte man eines der Länder am Mittelmeer aufsuchen oder, viel beeindruckender, auf dem noch so herrlich unordentlichen Balkan. 

Dort pfeifen die Spatzen tatsächlich noch jedes Gerücht von den Dächern. 

Und als Mitteleuropäer wundert man sich, wie schön laut sie das dort tun dürfen.