wilde perspektiven

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Sonntag, 19. November 2017

Wolf am Abgrund

Neulich spazierte ich bei absoluter Finsternis auf der Norder Deichstraße.

Sie ist einige Kilometer lang und verläuft fast schnurgerade entlang des Deichs.

In der Ferne sah ich zwei Lichter, die sehr hell waren. So hell, dass ich meinen Blick nach rechts unten, also auf den Rand der Fahrbahn, lenken musste.

Ich wollte schließlich nicht erblinden.

Es war aber auch dunkel an diesem Abend.

Meine Fresse!

Diese beiden Lichter kamen also auf mich zu. Es mussten die Scheinwerfer eines Autos sein, weil nur Autos zwei Strahler haben, die so verdammt hell sind. Und da war dem Anschein nach jemand mit eingeschaltetem Fernlicht unterwegs.

Ich wollte aufblenden, um den Fahrer am Horizont zum Abblenden zu bewegen. Dann fiel mir aber ein, dass ich ja gar nicht im Auto saß. 

Ich dachte, irgendwas stimmt da nicht. 

Shelducks on early morning

Die Lichter flackerten etwas und ihr Abstand zueinander veränderte sich immer wieder.

Mal wurde er etwas kleiner, dann wieder unbedeutend größer. Und wie viel Zeit sich der Fahrer ließ, um mich endlich zu passieren. Fuhr der überhaupt? Ich war mir da nicht mehr so sicher. Doch, jetzt sah ich es. Der Wagen kam tatsächlich auf mich zu, aber eben nur ganz langsam. Als er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit fast auf meiner Höhe war, hörte ich absolut kein Motorengeräusch. 

Das war gespentisch. 

Doch Gespenster gibt es natürlich nicht. Und die Lösung war überraschend einfach. 



same species, same time, same location

Die beiden Lichter waren nichts anderes als die Strahler zweier Fahrräder, die nebeneinander fuhren. Jetzt endlich konnte ich sie sehen. Ich musste lachen, weil ich so lange auf der Leitung gestanden hatte.

Doch es traf mich nur eine Teilschuld!

Denn die Fahrräder von heute haben tatsächlich unglaublich grelle Strahler. An diesem Abend hätten sie mich fast in den Wahnsinn, ja, beinahe sogar in den Verkehrstod getrieben. Ich meine, wenn ich im fahrenden Auto gesessen hätte, wäre ich vielleicht von der Straße abgekommen und im Graben gelandet. 



adult Peregrine (island of Juist in the background)

Ich selbst habe übrigens gar kein Fahrrad. Ich sitze lieber im Trockenen.

Ich erinnere mich aber noch sehr gut an meine Schulzeit. Jeden Tag musste ich etwa acht Kilometer mit dem Rad zurücklegen. Von Hollage nach Halen und von Halen nach Hollage. Morgens vier Kilometer hin und am Nachmittag vier Kilometer zurück. Immer. Auch bei Sturm, Schneefall und Dauerregen und sogar dann, wenn als Folge eines irgendwo in Osteuropa in die Luft geflogenen Atomkraftwerkes radioaktive Partikel durch die Luft schwebten.

Ich habe es überlebt. 

Und nicht ein einziges Mal bin ich damals mit eingeschaltetem Licht gefahren. Der Grund dafür war der so genannte Seitenläuferdynamo, der das Fahrrad dermaßen ausbremste, dass mir schon nach hundert Metern mindestens ein Lungenflügel aus dem Hals hing. Ich meine, eine Fahrt mit angezogenen Bremsen und einem durch die Speichen gesteckten Bügelschloss wäre kaum anstrengender gewesen. Jedenfalls hätte man diesen Kraftakt nur mit Gerd-Müller-Oberschenkeln bewältigen können.

Doch die hatte ich nicht.

Curlews (and the island of Norderney in the background) 

Heute ist alles ganz einfach.

Die luxpotenten Strahler werden über Batterien mit Strom versorgt, und der verfickte Dynamo hat endlich ausgedient. Das Kraftwerk übernimmt heute den Drecksjob. Und weil das Radfahren jetzt so eine erholsame und entspannte Sache ist, müssen sich die Menschen ins Fitnessstudio begeben, wenn sie mal ihre körperliche Leistungsgrenze ausloten wollen. 

An richtig finsteren Tagen hielt ich seinerzeit aus Sicherheitsgründen auch schon mal am Straßenrand an, wenn sich mir von hinten ein Wagen näherte. Erst nachdem der mich dann passiert hatte, setzte ich meine riskante Fahrt fort. Das war ganz schön nervig und zeitraubend, weil es an einem Morgen nicht bei einem Auto blieb. Ich gebe zu, manchmal überkam selbst mich die Angst, nicht rechtzeitig von einem dieser bestimmt noch schlaftrunkenen Verkehrsteilnehmer bemerkt und dann überfahren zu werden. In meinen schlimmsten Träumen sah ich mich ein ums andere Mal schon im Schneematsch liegen.

An einem dunklen Morgen.

Ganz allein.

Und herzlos im Stich gelassen von einem Fahrerflüchtigen.

two Black-headed Gulls with a Mew Gull

Trotzdem: In all den Jahren stoppte nur eine einzige Autofahrerin, um mir ins Gewissen zu reden. Sie bremste mich regelrecht in Rüpelmanier aus und wurde sogar laut, weil sie sich, wie sie behauptete, Sorgen um mich machte.

Ich nahm mir ihre Predigt zu Herzen.

Fortan sorgte die Glut einer Zigarette für ausreichend Beleuchtung. Diese erste Zigarette des Tages hatte ich zuvor immer erst an der Bushaltestelle in Halen geraucht.

Oystercatchers with a single Herring Gull

Ihr denkt jetzt, ich hätte übertrieben.

Aber das ist natürlich Quatsch. Ich habe alles absolut objektiv wiedergegeben. Mein Herz ist rein. Überhaupt ist diese Seite das einzige Medium auf der ganzen Welt, das weiß, was objetive Berichterstattung bedeutet. Wer Wilde Perspektiven anklickt, den erwartet die unverfälschte, oft allerdings auch traurige Wahrheit.

Ich meine, das hier ist nicht die BILD oder die Neue Osnabrücker Zeitung oder die WELT, wo zum Beispiel eine Person wie Herr Aust gegen den Wolf hetzen kann, weil er als Herausgeber die Möglichkeit dazu hat. 


Und Herr Aust ist nicht allein.

Zwar hat die SPD die vorgezogene Wahl in Niedersachsen gewonnen, für eine Alleinherrschaft hat es aber nicht gereicht.

Im Rahmen einer so genannten großen Koalition mit der verfickten CDU hat sich diese nun das Landwirtschaftsminsterium unter den Nagel gerissen. Und Frau Kinast-Otte, das ist die neue Ministerin, hat schon vor der Wahl unverblümt Stimmung gegen den Wolf gemacht. Als Landwirtin und, das ist jetzt von mir gemutmaßt*, Jagdsympathisantin mag sie keine großen Beutegreifer. Sie spricht von Überhandnehmen und so weiter. Als Vertreterin einer Spezies, von der es in Deutschland im Schnitt auf jedem Quadratkilometer 230 Individuen gibt, hat die Frau natürlich auch das Recht, eine andere Art, von der es bundesweit etwa 500 Individuen gibt, zu verteufeln.

Und nichts anderes macht diese Frau!

Man kann also schon jetzt davon ausgehen, dass der Wolf in diesem Land – gemeint ist zunächst nur Niedersachsen – keine Zukunft haben wird. Zwar wolle man der Natur nur "Problemwölfe entnehmen" (Jägersprache!), aber woran kann man einen Wolf erkennen, der Schafe verspeist, wenn man ihn nicht gerade auf frischer Tat ertappt? 

Es sind vor allem die Vertreter und Mitglieder dieser ach so christlichen Parteien, die absolut keinen Bezug zur Natur haben. Ihr erfundener Gott hat nämlich nur den Menschen erschaffen. Alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten dienen ihm nur zur Unterhaltung. Sonst hätten sie auch gar keinen Nutzen. Wenn es nicht so verdammt traurig wäre, könnte ich darüber lachen.

Ich kann es aber nicht.

Zu den Bildern, die heute nichts mit dem Text zu tun haben: Sie alle entstanden am letzten Wochenende unmittelbar vor Sonnenaufgang im Norder Watt. Wen genau sie zeigen, könnt ihr den Untertiteln entnehmen. Auf den letzten drei Fotos ist ein Trupp Austernfischer zu sehen, der sich ausgerechnet den Hundestrand in Norddeich für die Hochwasserrast ausgesucht hatte. Auf dem zweiten Bild aus dieser Reihe seht ihr auf einmal alle Schnäbel. Der Grund dafür war ein plötzlich auftauchender Hund, der schließlich auch auf die Vögel zurannte und sie aufscheuchte (Bild 3).

In diesem Fall ist das ja in Ordnung. Die Vögel sind nicht blöd und wissen genau, wo sie stehen. Und natürlich wissen sie auch, was oder wer sie ab einer bestimmten Tageszeit erwartet. Trotzdem suchen sie diesen Ort bei auflaufendem Wasser immer wieder auf, eben bis der erste Hund auf der Bildfläche erscheint.

Der Lernprozess ist halt noch nicht abgeschlossen.


* Daran, dass ich kenntlich mache, wann ich mutmaße, erkennt man übrigens Objektivität in ihrer reinsten Form ;-)