Sonntag, 10. Oktober 2021

Das Rote Ordensband

Am 28. September 2021 sah ich doch tatsächlich nach längerer Unterbrechung noch eine Hornissenraubfliege auf dem Rysumer Nacken (vgl. den vorletzten Beitrag)!

Direkt an der Wasserkante und auf halber Strecke zwischen dem Restaurant und dem Strand.

Es war die letzte Hornissenraubfliege des Jahres.

Und gleichzeitig die späteste meines Lebens!

Doch das nur so am Rande.

Heute –, oh meine Fresse, ey, jetzt geht das schon wieder los!

Einen Moment, Kinners, ich muss mal schnell nach draußen.

Wenig später sind zwei unmittelbar aufeinanderfolgende dumpfe Knallgeräusche zu hören.  

So, da bin ich wieder. Zwanzigmal habe ich dem Arschloch gesagt, dass man seinen Rasen nicht an einem lauen Samstagabend mäht. Und zwanzigmal habe ich dem Arschloch gesagt, dass ich es ihm ganz bestimmt kein einundzwanzigstes Mal sagen würde. Jetzt liegt es da auf seinem frisch gemähten Rasen, das Arschloch, und rührt sich nicht mehr. 

Doppelter Kopfschuss und so weiter. Plopp, plopp. Meine kleine Pumpgun hat wieder einmal anstandslos ihren dreckigen Job erledigt.

Ruhe, endlich die lang ersehnte Ruhe. Denn die brauche ich grundsätzlich, um einen neuen Beitrag schreiben zu können.

Und im heutigen Beitrag geht es um das Rote Ordensband.

this pretty Red Underwing behaved like a Purple Emperor

Das Jahr 2021 wird für mich auch als das Jahr der vielen naturkundlichen Überraschungen in die ganz persönliche Geschichte eingehen. 

Eine dieser Überraschungen war das hübsche Rote Ordensband, das ich zum ersten Mal in meinem Leben zu Gesicht bekommen habe. 

Und das gleich in vielfacher Ausfertigung!

Meine erste Begegnung war mir bereits am 30. August auf dem Rysumer Nacken gelungen, als eines dieser Biester am helllichten Tag und unter einer prall scheinenden Sonne wie aus dem Nichts angeflogen kam und sich nur wenige Meter von mir entfernt am oberen Rand einer sandigen Abbruchkante zu verstecken suchte.  

Die Bilder erspare ich euch, Mittagssonne und so weiter. 

Fortan sollte ich diesen großen Falter an jedem Tag, den ich auf dem Rysumer Nacken verbracht habe, beobachten! 

Dass ich mal nach Einbruch der Dunkelheit einen Rotweinköder erfolgreich zum Anlocken des Roten Ordensbandes eingesetzt habe, darüber ist hier bereits berichtet worden. Doch für viel interessanter halte ich die ganzen Feststellungen, die mir am Tage und oft in der Mittagszeit gelungen sind. Mal bei Sonne, mal bei bedecktem Himmel. An stürmischen Tagen und an windstillen. An heißen wie auch an sehr frischen. 

Im Grunde verliefen all diese Begegnungen nahezu identisch. Ein großer Falter taucht plötzlich auf, fliegt erratisch und schnell eine Gebüschreihe entlang und verschwindet nach wenigen Sekunden wieder. In den seltensten Fällen hatte ich die Tiere zuvor selbst aufgescheucht, meist waren sie wohl aus freien Stücken durch das hell erleuchtete Outback gedüst. 

Zwar begegnete ich dem Roten Ordensband an vielen Stellen auf dem Rysumer Nackens, doch das Ordensband-Epizentrum befand sich am Ende dieser Stichstraße neben dem Gassco-Gelände:

habitat of Red Underwing at the end of this road, where shrubbery offers shelter at daytime 

Der Stamm einer Schwedischen Mehlbeere sieht so aus:


the bark of Swedish Whitebeam is always covered by Lichen

Dieser Baum, der hier nicht bodenständig ist, ist in der Vergangenheit oft angepflanzt worden, meistens, aber nicht immer, entlang von Straßen. 

Die Schwedische Mehlbeere ist eine nahe Verwandte der heimischen Eberesche, doch in allen Teilen, wie ich finde, noch hübscher als diese. Die glänzenden dunkelgrünen Blätter, die so angenehm gefärbten Früchte und auch die Borke, die eigentlich immer von Flechten übersät ist, machen diesen Baum zu einem Gesamtkunstwerk. 

Und man braucht ihn heute auch gar nicht mehr extra anzupflanzen, er breitet sich auch selbstständig aus. Nein, nicht wirklich ganz selbstständig, sondern mit Unterstützung von Drosseln, Staren, Grasmücken und anderen Vögeln. Denn diese Vögel lieben die leckeren Früchte, die ähnlich aufgebaut sind wie jene des Apfels. Es handelt sich im biologischen Sinne also nicht etwa um Beeren, wie oft behauptet wird, sondern eben um so genannte Apfelfrüchte.   

Doch das tut hier eigentlich überhaupt nichts zur Sache.

Am 15. September kehrte ich nach einer langen Wanderung über den Rysumer Nacken zu meinem Wagen zurück. Ich setzte mich hinein und startete den Motor. In diesem Augenblick war da plötzlich wieder ein Rotes Ordensband, das entweder vom Boden gestartet war oder zuvor auf Corsilein geruht hatte. Es flog und flog und flog. Die Straße entlang und auf eine Baumgruppe zu. Los, du Mistviech, so dachte ich, lande endlich mal auf einem Baumstamm. 

Ja, Kinners, das war mein Wunsch, denn ich wollte die nahezu perfekte Tarnung dieser Tiere dokumentieren. Tatsächlich steuerte der Falter nach einigen Irrungen und Wirrungen den Stamm einer Schwedischen Mehlbeere an, landete schließlich und schloss seine Schwingen, sodass er nun komplett mit seiner borkigen Umgebung verschwamm.

Die Mehlbeere stand in einer Gruppe aus sechs Individuen und unmittelbar neben der oben erwähnten Straße.

Es war der Baum ganz rechts im Bild:


where I found tons of Red Underwings

Eigentlich handelt es sich hier eher um Bäumchen.

Beachtet bitte auch den Straßenbegrenzungpfosten im Vordergrund.

Ich stieg aus und legte sofort los. Mit meinem Teleobjektiv schoss ich eine ganze Reihe identisch aussehender Bilder, bis ich zufrieden war und wieder ins Auto kletterte. Bevor ich den Motor abermals anschmiss, schaute ich noch einmal zum Baumstamm hinüber. 

Ich stutzte. War da nicht noch ein weiterer Falter? Rasch stieg ich wieder aus und schaute nach.

Unglaublich, es waren wirklich zwei:








two Red Underwings resting well camouflaged on the "lichened" bark

Beim ersten Fotoshooting war ich so auf das eine Individuum fokussiert gewesen, dass ich das zweite, nur wenige Zentimeter entfernt ruhende, komplett übersehen hatte.

Doch warum war es mir dann vom Wagen aus aufgefallen?

Ganz einfach, die Tarnung ist nur dann perfekt, wenn man von oben auf so ein Tier schaut. Von der Seite sieht alles nämlich schon ganz anders aus:


Okay, selbst dann kann man die Schmetterlinge noch für abstehende Borke halten. 

Ich will nicht zu sehr auf die Kacke hauen, aber inzwischen ist mein Blick geschärft. Jetzt finde ich die Ordensbänder auch dann, wenn sie mir nur ihre kryptisch gezeichnete Oberseite präsentieren. 

Und es waren gar nicht nur zwei Individuen an diesem Stamm, sondern vier:


two more specimens

Ich hatte plötzlich gar keine Lust mehr, nach Hause zu fahren.

Stattdessen drehte ich noch eine weitere Runde über den Rysumer Nacken. Und als ich wieder zurück bei Corsilein war, wagte ich eine letzte Kontrolle des Baumstammes. Kinners, ich traute meinen Augen nicht, denn jetzt waren es unglaubliche fünf Rote Ordensbänder am selben Stamm! Vier von ihnen konnte ich auf ein Bild bekommen, das fünfte hockte auf der falschen Seite.

Und es ist das Bild, das ich bereits oben gezeigt hatte:


four hide and seek playing specimens in one image 

Dieses Foto schickte ich einem Menschen, den man ganz locker als Schmetterlingspapst bezeichnen könnte. 

Seine Antwort: "So etwas habe ich noch nie gesehen."

Möglicherweise hat es sich bei einem dieser fünf Ordensbänder um eine Dame gehandelt, die dann die ganzen Männchen über das Absondern von Pheromonen angelockt hat. Ist aber nur so eine Hypothese und so weiter.

Jedenfalls begegnete mir dieser interessante Falter in den kommenden zwei Wochen immer wieder, ohne dass ich ihn mühevoll suchen musste. Jetzt frage ich mich natürlich, wie ich ihn so viele Jahre hatte übersehen können. Ich meine, das Rote Ordensband ist groß und auffällig, wenn es tagsüber fliegt. Die Lösung: Auf den ersten Blick hielt ich die Tiere zumindest zu Beginn einige Male für Distelfalter. So verschieden sind die Flugweisen beider Arten nämlich gar nicht. Und wer rechnet schon bei Tageslicht mit so einer Art? Mir war auch gar nicht bekannt, dass das Rote Ordensband überhaupt tagaktiv sein kann. Und dann hat man schnell die Schere im Hirn und schließt alles aus, was nicht ins Bild passt. 

Das geht ganz fix. 

Eine zweite Erklärung zum Nulltarif: Möglicherweise hat es in diesem Jahr besonders viele Rote Ordensbänder auf dem Rysumer Nacken gegeben, sodass selbst ich sie nicht mehr übersehen konnte.

Zwei weitere Indivduen, fotografiert an einem anderen Tag und auf anderen Stämmen der Schwedischen Mehlbeere:




Nachweise auf der Borke anderer Baum-Arten sind mir übrigens nicht gelungen.

Selbst die unweit stehenden Schwarzerlen wurden von den Ordensbändern dem Anschein nach gemieden. Nur im Rahmen meiner Rotwein-Aktion ließen sich dort zwei Individuen blicken.

Die sehr attraktive Raupe eines anderen Falters fand ich am 1. Oktober im Lütetsburger Forst:


Pale Tussock caterpillar

Sie krabbelte auf einem viel begangenen Weg herum. 

Ich hob sie auf, setzte sie aufs Dach meines Autos, um ein paar Bilder zu machen, und ließ sie dann an einem Ort frei, wo sie sich nicht vor den Fußtritten der vielen Menschen fürchten musste. 

Sicherheit geht immer vor. Das sagte ich der Raupe des Buchenstreckfußes auch!

Stare sammelten sich morgens auf Industrieanlagen des Gassco-Geländes und unterhielten sich lautstark miteinander:



Common Starling

Ein junger Rosenstar war nicht darunter.  

Nachdem ich im letzten Jahr gleich zwei Jungvögel finden konnte – einen bei Manslagt und genau zwei Monate später einen weiteren auf dem Rysumer Nacken –, war ich leichtfertigerweise davon ausgegangen, dass mir dieses Kunststück nun alljährlich gelingen würde. 

Doch das ist leider (bislang) nicht der Fall. 

Immerhin sah ich bereits am 29. September meinen ersten und bislang einzigen Gelbbrauen-Laubsänger dieses Herbstes:



my first Yellow-browed Warbler of the season showed up at Rysumer Nacken on 29. September

Er war ein blöder Scheißvogel, der sich geschickt meinen Blicken entzog und nach nur wenigen Sekunden komplett abtauchte und zu allem Überfluss auch nicht mehr rief. 

Ich hasse alle Vögel!

Doch noch mehr hasse ich Menschen, die dem Anschein nach auch nach offenbar erlittenem Hirntod weiterleben können, obwohl die Wissenschaft immer Gegenteiliges behauptet:


many people live without brain 

Ich meine, das steht die fette Mülltonne wie zum Trotze im Hintergrund, nur wenige Meter entfernt. 

Man kann wirklich nur mit dem Kopf schütteln angesichts der Dummheit so einiger Zeitgenossen. 

Schnell zurück zum Hauptdarsteller des heutigen Beitrages, bevor ich mich wieder unnötig aufregen muss: Das Rote Ordensband ist eine klassische Art der so genannten Weichholzaue. 

Dabei handelt es ich um eine Waldform, wie man sie ursprünglich entlang von Flüssen finden konnte. Der wechselnde Wasserstand dieser Flüsse, der für das periodische Überfluten großer Flächen verantwortlich ist, spielt vor allem Weiden und Pappeln, aber auch Erlen in die Karten. Die Weichholzaue ist ein vielfältiger und somit sehr wertvoller Lebensraum. 

Leider hat man im Laufe der letzten Jahrzehnte entlang vieler Flüsse mächtig aufgeräumt und riesige Auwald-Flächen abgeholzt und zugebaut. Feuchtgebiete, die nicht an Flüssen lagen, hat man trocken gelegt, sodass nicht nur das Rote Ordensband einen starken Bestandsrückgang erleiden musste. Das gilt auch für Ostfriesland.

Auf dem Rysumer Nacken kommen übrigens drei Pappel-Arten vor (Silber-, Schwarz- [oder Hybrid-] und Zitterpappel) und darüber hinaus unzählige Weiden, von denen ich wiederum nur zwei ganz sicher bestimmen kann: Silberweide und Salweide. Liebend gerne würde ich mal mit einem echten Kenner der so schwierigen Gattung Salix über den Rysumer Nacken spazieren, denn neben den ohnehin schon vielen Arten soll es auch noch diverse Hybridformen geben. Wenn es um Partnerwahl und Vermehrung geht, sollen es Weiden nämlich nicht so ganz genau nehmen, wie ich gelesen habe. 

Und nicht so furchtbar genau nehmen es die Raupen des Roten Ordensbandes, wenn es um ihre Nahrung geht. Aufgegessen werden von ihnen die Blätter verschiedener schmalblättriger Weiden und diverser Pappeln. Der so hübsche Falter fliegt in einer Generation von Juli bis Mitte Oktober, wobei es da regionale Abweichungen geben kann. Überwintert wird als Ei, aus dem im Frühjahr die Raupe schlüpft, die rasch heranwächst und vor der Verpuppung eine beachtliche Größe von maximal 70 Millimetern erreicht. 

Oh, ich höre Stimmen. 

Egal, einfach ignorieren. 

Das ist er wieder, der Straßenbegrenzungspfosten von eben:



hide and seek one more time

Ja, ein weiteres Ordensband ruhte sich hier direkt am Straßenrand aus:



Jetzt klopft jemand gegen meine Tür.

Nein, ich korrigiere: Mehrere Menschen klopfen an meiner Tür.

Falsch, sie klopfen nicht, sie rammen offenbar mit einem wuchtigen Gegenstand. Ich glaube, man kann von einem entfesselten Mob sprechen, der da vor meiner Haustür tobt. Oh Gott, gleich gibt sie nach, die Tür, sie verbiegt sich schon. Wenn das mal alles gut geht...

Schnell ein letztes Ordensband für heute und für die Ewigkeit:


Wenn ich mal sterbe, dann soll auf meinem Grabstein stehen: 

"Ein Deutscher kann er nicht gewesen sein, denn er hat nie einen Rasen gemäht, nicht ein einziges Mal eine Hecke gestutzt." 

Tatsächlich will ich gar keinen Grabstein. 

Ich finde, wir Menschen nehmen uns so schon viel zu wichtig. Nach dem Tod sollte damit endlich Schluss sein. Einäschern und fertig. Dann rein in den Friedwald oder raus aufs offene Meer. Wir brauchen keine Friedhöfe, wir sollten der Natur mal so langsam etwas zurückgeben. Und Friedhöfe haben in den seltensten Fällen etwas mit Natur zu tun. 

Zum Trauern braucht man keine Anlaufstelle, die man pflegen kann oder um die man sich kümmern muss. Trauer ist reine Kopfsache. Aber ich befürchte, dass die meisten Menschen das niemals verstehen werden.

Hilfe, in diesem Augenblick fallen sie buchstäblich mit der Tür ins Haus!

Schnell noch ein letzter Biss ins leckere Käsebrötchen.

Schluss für heute; sie kommen mich holen.