wilde perspektiven

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Freitag, 1. Juli 2016

Tinea pellionella

Tinea pellionella, ein Name wie eine bezaubernde Landschaft in der Toskana.

Wie ein Gedicht!

Oder wie ein Vier-Sterne-Gericht, wenn man mit Landschaften und Lyrik nichts anzufangen weiß und eher ein Freund kulinarischer Kostbarkeiten ist.

Heute geht es um einen Falter, den ich hier eigentlich schon vor Jahren vorstellen wollte. Weil er aber so winzig und entsprechend schwierig in Szene zu setzen ist, musste ich ihn und euch und mich immer wieder vertrösten.

Auf dem folgenden Bild ist ein Individuum dieser Spezies zu sehen.

Wer es findet, darf es behalten:




resting habitat of Case-bearing Cloths Moth at day time

Denkt man an Schmetterlinge, hat man in der Regel bunte Flatterflieger über noch bunteren Blumenwiesen  vor Augen. 

Wenn es gut läuft.

Pessimisten unter uns kommen nämlich vielleicht eher jene Arten in den Sinn, die uns unsere Nahrung streitig machen oder sonstwie gegen den Strom fliegen. Der zwar hübsche, aber aus Sicht vieler Zeitgenossen auch schädliche Große Kohlweißling zum Beispiel, dessen vermeintlich unersättliche Raupen in der Plantage hinterm Haus wüten. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an meine Großmutter, die vor vierzig Jahren tagtäglich die Kohlbeete im emsländischen Bauerngarten kontrollierte und den Nachwuchs dieses Falters einfach mal eben zwischen Zeigefinger und Daumen zerdrückte. 

Obwohl ich als kleiner Dötz neben ihr stand!

Gut, sie hatte den Krieg erlebt. Wahrscheinlich sogar beide großen Kriege. Und somit wohl auch Hunger und Not. Da war dann eben kein Platz mehr für Sentimentalitäten.

Heute ist der Große Kohlweißling längst nicht mehr so häufig wie damals. Der inflationäre Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft und auch in Privatgärten hat ihn leider vielerorts verdrängt.

Schade um das hübsche Tier.


Doch wer, Kinners, verbirgt sich denn jetzt hinter diesem schönen wissenschaftlichen Namen in der Titelzeile? 

Case-bearing Cloths Moth is one of my selected cohabitants. Currently there are up to 10 individuals patrolling my appartment

Ich mach's kurz: Es ist die geile Pelzmotte!


Bist du Asi oder Messi, oder was?

Machst du nicht sauber?

Du Drecksau!

Diese Gedanken gehen euch jetzt bestimmt durchs Hirn, richtig?

Aber ihr urteilt etwas vorschnell, denn die Pelzmotte kommt in nahezu allen Wohnungen und Häusern vor. Mit hygienischen Mängeln hat ihr Auftreten nichts zu tun, wenngleich ich gerne zugebe, dass es in meiner Wohnung alles andere als steril ist.


Doch der Reihe nach.

Es war einmal ein kleiner Falter, dessen Leben sich in finsteren Ecken außerhalb menschlicher Behausungen abspielte. Im Outback und dort in Tierbauten und Vogelnestern. Im sozialen Abseits, könnte man auch sagen. Er fühlte sich unbeachtet und wertlos und fand irgendwann heraus, dass es sich im engsten Dunstkreis des Menschen viel besser und unbeschwerter leben ließe. Dann ziehe ich doch einfach bei den Zweibeinern ein, so dachte die Pelzmotte schon vor einer Ewigkeit, um uns Menschen fortan durch die Jahrhunderte zu begleiten.

Die wankelmütige Witterung kann einem in einer Menschenwohnung völlig schnuppe sein. Und auch an Nahrung mangelt es dort nicht. Denn die Raupen dieser Art ernähren sich nicht etwa von Blättern und Stängeln, wie es die meisten anderen Schmetterlingslarven tun, sondern stattdessen von tierischer und keratinhaltiger Kost.

Wer also eine Katze hat oder zwei, einen Hund oder gleich sieben, wer einen oder mehrere wollene Teppiche besitzt oder selbst mal Haare oder Hautschuppen verliert, der kann davon ausgehen, dass die Pelzmotte nicht weit ist. Denn genau diese unappetitlichen Dinge stehen auf dem Speiseplan ihrer Raupe: Haare, Hautschuppen, Federn und Wolle.

Die Imagines hingegen nehmen keine Nahrung zu sich. Sie zehren von dem, was einst die Raupe zu sich genommen hat. Das passt gut, denn in welcher Wohnung gibt es schon ein dauerhaftes und stets zugängliches Angebot an Nektar oder sonstigen Zuckersäften. Und praktisch ist das auch, denn wenn man nichts essen muss, hat man mehr Zeit für die Partnersuche. Und diese Zeit nutzen die Männchen, indem sie ausdauernd durch die Hütte patrouillieren. Von Mai bis spät in den Herbst tun sie das. Vor allem in der Dämmerung.

Weil die Tiere mit einer Kopf-Rumpf-Länge von nur etwa fünf Millimetern winzig sind, fallen sie den meisten Menschen überhaupt nicht auf. Und wenn sie doch auffallen, werden sie für Mücken gehalten. Mindestens aber denken die Leute, es müsse sich um Tiere handeln, die von draußen in die Wohnung eingedrungen sind. Dass es sich um Schmetterlinge handelt, die ihr ganzes Leben in der Wohnung verbringen und sich dort sogar vermehren, kommt keiner Seele in den Sinn.

Wie Zitterspinne und Silberfischchen stellt die Pelzmotte aber eine feste Requisite fast jeder Wohnung dar. Ob ihr das wollt oder nicht. Und wie Zitterspinne und Silberfischchen will sie eines ganz bestimmt nicht: nach draußen.

different specimen

Googelt man ihren Namen, stößt man ausschließlich auf eine unsachliche und unfaire, ja geradezu reißerische Berichterstattung. Fast könnte man meinen, RTL 2 oder Radio FFN seien dafür verantwortlich. Einen deutschen Wikipedia-Artikel, der etwas gegensteuern könnte, gibt es leider noch nicht. So aber überlässt man das Feld jenen Menschen, die das negative Image der Pelzmotte in der Bevölkerung bewusst schüren, um Panik zu verbreiten und an ihrer Bekämpfung den einen oder anderen Taler zu verdienen.

Ein echtes Horrorszenario wird da konstruiert: Teppiche zerbröseln, Wollpullover zerbröseln, die ganze Wohnung zerbröselt und ihr Bewohner am Ende auch – wenn er nicht rechtzeitig etwas unternimmt. Gemeint ist vor allem der Einsatz von Chemie, für den man natürlich bezahlen muss.

Wenn man also etwas liest über eine bestimmte und vermeintlich schädliche Tierart, dann muss man sich immer fragen, welche Intention der Schreiber verfolgen könnte. Wenn ich einen Jäger auf Fuchs und Steinmarder oder Eichelhäher anspreche, dann werde ich in den allermeisten Fällen auch kein objektives Urteil erwarten können. Stattdessen wohl eher eine Hasspredigt. Na ja, ihr versteht, was ich meine.

Im Falle der Pelzmotte ist fast alles, was man auf die Schnelle im Netz finden kann, mit Un- und Halbwahrheiten angereichert.

Diese Tiere flogen schon in meinem Elternhaus herum. Nie habe ich meiner Mutter etwas davon erzählt, weil ich wusste, wie sie reagieren würde. Sie hätte sofort die Paral-Dose aus der Versenkung geholt und auf Dauerfeuer gestellt, so wie sie das früher gemacht hat, wenn sich mal ein Brummer in die Wohnung verirrt hatte. Kennt ihr diese sterbenden Fliegen auf der Fensterbank, die auf dem Rücken liegen und sich rasant im Kreis bewegen?

Summ, summ, summmmmmmmmmmmmmmm... su – m...m...

Was für Tiere nicht gut ist, kann auch den Menschen nur schaden! Das war der Merksatz für heute.

Eine andere Pelzmotte, fotografiert im Flur:

third specimen

Mal können die Tiere sehr hell (oben) oder, wie hier, sehr dunkel erscheinen. Das liegt an den Flügelschuppen, die das Licht des Blitzes bei einem bestimmten Einfallswinkel stark reflektieren.


Ich habe mich mit anderen Naturfreunden ausgetauscht, die, so wie ich, nicht gleich Panik bekommen, wenn mal eine Eichenschrecke oder eine Hausmutter an der Zimmerdecke hängt. Die nicht die Hände vors Gesicht schlagen und hysterisch rumschreien, wenn sich die Hausspinne in ihrer Dreistigkeit mal bei Tage blicken lässt. Mit Menschen, die eben ein Auge für die Kostbarkeiten der Natur haben. Die die geile Pelzmotte kennen und nebenbei über Jahre beobachtet haben.

Keiner konnte von Schäden berichten.

Und damit das mal klar ist, es geht hier nicht um die verwandte und viel bekanntere Kleidermotte, deren Raupen ein ähnliches Nahrungsspektrum haben. Sie neigt viel eher zu einem Massenauftreten und kann dann tatsächlich einen gewissen Schaden an Kleidung und Teppichen anrichten. Von der Pelzmotte habe ich das aber, wie oben bereits geschrieben, noch nie gehört.

In meinem Wohnzimmer zum Beispiel liegt ein großer Wollteppich, der wahrscheinlich die Hauptbrutstätte für die Pelzmotten in meiner Höhle darstellt. Er sieht auch nach Jahren noch wie neu aus. Man kann ihn anheben, ohne dass er zu Staub zerfällt. Ich weiß das, weil ich das immer mal wieder machen muss, wenn ich Zusammengefegtes darunter verstecke, statt es mit einem Kehrblech Richtung Mülleimer zu tragen und dort zu entsorgen.

Der Teppich:

probably this carpet is the habitat of Moth's caterpillars

Ob sich die Raupen wirklich von meinen beiden Wollteppichen ernähren, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie schmatzen nicht. Und sie rülpsen auch nicht. Und gezielt gesucht habe ich ich auch noch nie nach ihnen.

Ich besitze aber weder Wollklamotten noch Haustiere, die die Wohnung permanent mit frischem Haar versorgen. Und ob meine Hautschuppen ausreichen, weiß ich nicht.

Dieses Tier rastete tagsüber im (verlassenen) Netz einer Zitterspinne:

resting in a spider's web

Es war quicklebendig und flog, nachdem ich es aufgescheucht hatte, in eine andere Ecke des Raumes.

Die Pelzmotte ist ein sehr  agiles Tier, das sofort das Weite sucht, sobald es behelligt wird. Es dauert oft ewig, bis sie sich wieder niederlässt. Und wenn sie es endlich tut, irrt sie noch eine ganze Weile zu Fuß umher. Sie läuft sehr flink und sucht bei Gefahr aktiv geeignete Verstecke auf, um dem Feind zu entgehen.

So verschwinden Pelzmotten in dunklen Spalten, zum Beispiel hinter Bildern oder Schränken, wenn man sie zu sehr nervt. Werden sie nicht gestört, begnügen sie sich mit Tageseinständen im Übergangsbereich zwischen Decke und Wand, wo man sie leicht entdecken, aber nur schwer fotografieren kann.

Hier nochmal das Tier an der Wand, das ich bereits ganz oben als Suchbild präsentiert hatte (roter Pfeil):

Auf dem Foto ist auch noch ein IKEA-Bilderrahem zu erkennen (blauer Pfeil), hinter den sich kurz zuvor eine weitere Pelzmotte gerettet hatte. Der grüne Pfeil zeigt auf alte und staubige Spinnweben...


Die Weibchen der Pelzmotte fliegen übrigens kaum umher.

Im Gegensatz zu den Männchen sind sie zu faul zum Suchen. Sie wollen lieber gefunden werden. Wahrscheinlich passiert das sogar oft unmittelbar, nachdem sie aus der Puppe geschlüpft sind. Es kommt schnell zur Paarung und anschließend zur Eiablage.

Die Pelzmotte klebt ihre Eier nicht etwa an einer Unterlage fest, sie werden einfach abgelegt und können, wenn man denn gewillt ist, mit Unterstützung eines Teppichklopfers entfernt werden. Das bringt aber nur was, wenn man den Teppich zuvor aufhängt ;-)

Die Raupe baut sich aus Fasern und anderem Material ein Säckchen, in dem sie sich versteckt. Es hat an beiden Enden eine Öffnung und wird von der Raupe bei ihrer Suche nach Nahrung mit durch die Gegend geschleppt. So einsiedlerkrebsmäßig, wenn man so will. Die englische Bezeichnung dieses Tieres spielt darauf an.

Der gesamte Lebenszyklus dieses Falters beansprucht etwa zwei Monate. In Mitteleuropa fliegen alljährlich (mindestens) zwei Generationen. Ich selbst habe diese Art übrigens noch nie im Winter gesehen, obwohl ein Auftreten von den  angenehmen Raumtemperaturen her wahrscheinlich möglich wäre.

Die Pelzmotte ist heute ein echter Kosmopolit. Ursprünglich soll sie aus Europa stammen, doch der Mensch hat ihr unbeabsichtigt auch noch den Rest der Welt gezeigt. Heute kommt sie wohl überall dort vor, wo es Menschen gibt. Vielleicht ist sie so etwas wie die Wanderratte oder der Haussperling unter den Schmetterlingen.

Und wenn ihr euch jetzt in eurer eigenen Behausung auf die Suche begebt, dann solltet ihr auch fündig werden. Es sei denn, ihr seid blind oder setzt hin und wieder chemische Mittelchen ein. Jedenfalls kann man die Tiere auch mit bloßem Auge im oberen Bereich der Wände gut ausmachen. So als kleiner Tipp von mir und so weiter.


Zum Abschluss kann ich euch noch eine leuzistische Amsel vorstellen, die vielleicht in ihrer Kindheit zu viel Milchkaffee getrunken hat:

aberrant coloured Common Blackbird – note unusually patterned secondaries and tail

Interessant sind auch die quergebänderten Steuerfedern.

Dieser Vogel treibt sich zurzeit in Bedekaspel am Großen Meer herum, wo ich ihn am Samstag (25. Juni 2016) fotografieren konnte.

Und weil Vogelfedern auch zum Nahrungsspektrum der Pelzmotten-Raupe gehören, schließt sich hier der Kreis.


Jetzt ist es 18 Uhr, und ihr glaubt es nicht, aber kaum habe ich das letzte Wort dieses Beitrages in die Tastatur gehämmert, da tauchen doch glatt gleich zwei Pelzmotten gleichzeitig auf. Sie umschwirren den Monitor und gucken ihn sich von allen Seiten an. Wahrscheinlich trauen sie mir nicht und wollen das, was ich über sie geschrieben habe, schnell noch einmal gegenlesen.

Angesichts der schlechten Erfahrung, die sie in der Vergangenheit mit menschlicher Berichterstattung gemacht haben müssen, kann ich das voll und ganz verstehen!