Dienstag, 18. April 2017

Die Klassenarbeit

Wenn man, so wie ich, auf die Vollendung eines halben Jahrhunderts zustolpert, dann ist eines gewiss: Über die Hälfte seines Lebens hat man geschafft.

Schließlich können wir nicht alle zum Heesters werden.

Mit unserer Geburt tragen wir den Tod automatisch im Handgepäck mit uns herum. Man bekommt ihn gratis dazu. Geduldig lauert er auf eine günstige Gelegenheit. Wann genau er sich aus seiner beengten Situation befreien kann, ist selten vorhersehbar. Einen passenden Augenblick gibt es dafür wohl auch nicht. Augen zu und durch. Das gilt für die schlechten Phasen des Lebens, wie ja auch schon für den kurzen Weg durch den Geburtskanal.

Immer mal wieder habe ich mir in der Vergangenheit die Zeit genommen, mich an bestimmte und unbestimmte Ereignisse zu erinnern. Jeder Mensch erlebt Lustiges, Interessantes, Aufregendes, Spannendes, aber natürlich auch Tragisches und Trauriges. 

Ich bin da keine Ausnahme. 

Es sind kleine Zeitreisen, die ich mir erlaube und die mich nichts kosten. Je älter man wird, desto mehr Ereignisse gibt es, auf die man in seinen Gedanken zurückgreifen kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht, dass mir bis heute vor allem und immer wieder Sequenzen aus meiner Schulzeit in den Sinn kommen. Erklären kann ich das nicht, zumal diese Phase meines Lebens ganz normal verlaufen ist, mit Höhen und Tiefen.

Trotzdem taucht sie immer wieder in meinen Gedanken auf, die gute alte Schule. Mal sind es Situationen, mal bestimmte Lehrer oder Mitschüler, die mich auch heute noch zum Schmunzeln bringen. An die Lehrer kann ich mich meist besser erinnern als an viele Mitschüler. Das hat aber ausschließlich mit ihrer geringeren Anzahl und dem dominanteren Auftreten zu tun. 

Es waren sehr gute und begeisternde Lehrer darunter, wie etwa Herr Kremp, Herr François, Frau Ruppenkamp, Frau Klaschka, Herr Lalana und Herr Röckers, aber auch einige ohne jegliches Talent.

Ich verrate nicht zu viel, wenn ich schreibe, dass einer der schlechten Lehrer so ähnlich hieß wie der Kapitän der biblischen Arche.

Und so trat er auch auf.

entweder Pardosa armentata oder P. hortensis* 

Vor allem aus gesundheitlichen Gründen ist es mir in den vergangenen Monaten kaum möglich gewesen, ins Outback zu gehen. Deshalb die lange Pause. Für die treuen Stammkunden hier, z. B. aus Kiel und Gütersloh, die diese Seite sogar dann noch regelmäßig besuchen, wenn dreieinhalb Monate nichts passiert, habe ich mir einen Notbeitrag aus den Rippen geschnitten, der allerdings nicht so recht ins Sortiment dieses Blogs passen will. Trotzdem: Wenn Menschen so hartnäckig am Ball bleiben, dann sollen sie auch belohnt werden.

Heute gibt es also immerhin dieses interessante Tier aus der großen Familie der Wolfsspinnen, das ich Anfang März auf dem Rysumer Nacken fotografieren konnte. Zusammen mit unzähligen Kollegen genoss die Spinne an diesem eigentlich eher kühlen Tag die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres an einem windgeschützten Ort


Ähnlich verhält es sich mit den Mitschülern. 

Einer von ihnen war Paul**. 

Paul bekam zum Ende eines jeden Schuljahres die seltsamsten Zeugnisse ausgestellt. Graustufen fehlten, es  gab immer nur Schwarz und Weiß. In Deutsch, Geschichte und Politik staubte er ausnahmslos Bestnoten ab, alle anderen Fächer ignorierte er komplett. Mehrere Ehrenrunden waren die Folge. Und am Ende verließ er die Schule, entweder weil er musste oder aber nicht mehr wollte. Ob er es an einem anderen Gymnasium erneut versucht oder einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat, ist mir nicht bekannt.

In der fünften Klasse begegnete mir Paul zum allerersten Mal. Gleich zu Beginn fiel mir seine Begeisterung für Geschichte und Politik auf. Wohl vor allem deshalb, weil ich mit diesen Fächern überhaupt nichts anfangen konnte. Ich kannte den damaligen Bundeskanzler, Helmut Schmidt, den niedersächsischen Ministerpräsidenten, Ernst Albrecht, und vielleicht noch den Bürgermeister der Gemeinde, in der ich lebte. 

Doch das war's auch schon.

Paul wusste alles. Für die jeweiligen Lehrer musste ein solcher Schüler ein Segen gewesen sein. Welche Frage sie auch stellten, Paul kannte die Antwort. Und er schnippte nicht etwa mit den Fingern, wie die Meisten von uns es machten, wenn sie sich meldeten. Er schnappte mit den beiden äußeren Fingern seiner rechten Hand auf den nur wenige Zentimeter entfernten, weich gepolsterten Daumenansatz, der mich übrigens immer an eine Hähnchenkeule erinnert. Seine linke Hand hielt er meist in der Jackentasche versenkt. Das hatte ich nie zuvor gesehen. Es sollten einige Jahre intensiven Trainings vergehen, bis auch ich diese extravagante Technik beherrschte.

Wenn Paul sich meldete und sich übergangen fühlte, dann hob er auch schon mal ab. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ging das Vielen nicht anders.

hurtig, hurtig – Sanderlinge im Januar auf dem Emsstrand. Bewusst gewählte lange Verschlusszeiten sorgen für den gewünschten Wischeffekt

Ohne Beine:

Und im Fluge:

 
Paul war ganz bestimmt ein spezieller Mensch.

Ihr kennt die Sache mit dem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. In seiner besten Phase kam Paul auch schon mal mit kajalumrandeten Augen zur Schule, gekleidet in einen schwarzen Ledermantel. Heute denke ich angesichts seines damaligen Auftretens unweigerlich an diese irrgeleiteten Schüler, die wie aus dem Nichts unter Ihresgleichen ein sinnloses Blutbad anrichten, doch davon war Paul meilenweit entfernt. Eigentlich war er kein schlechter Mensch, wenn man sich die Mühe machte, ihn etwas kennenzulernen. Und im Grunde hatte er nur einen echten Makel: Er stand auf Depeche Mode!

In seiner Freizeit war das Schauspiel Pauls Leidenschaft. Es gab damals eine Theater-AG im benachbarten Ibbenbüren, wo er sich in die eine oder andere Rolle vertiefen und so aus dem wahren Leben ausklinken konnte. Weil manche dieser Stücke auch an unserer Schule aufgeführt wurden, kam auch ich in den Genuss seiner schauspielerischen Darbietungen. Meist übernahm er den Part verschrobener, etwas seltsamer Charaktere. Jedenfalls war das mein Eindruck. Heute denke ich, da war viel Kinski im Spiel. Ob Paul diesen künstlerischen Weg nach seiner Schullaufbahn weiterverfolgt hat, ist mir nicht bekannt. Das weltweite Netz gibt jedenfalls keine einzige Information über ihn preis.

In der Mittelstufe stand wieder mal eine Klassenarbeit an. 

Ich saß neben Paul und gemeinsam mit ihm in der ersten Reihe, direkt vorm Pult der Lehrerin. Das war ungewöhnlich für mich, denn meist bevorzugte ich einen Platz im hinteren Bereich des Klassenzimmers, wo ich mich etwas verstecken und den ungehindertem Blick nach draußen genießen konnte.

Das literarische Werk, um das es in dieser Arbeit gehen sollte, hatte ich nicht gelesen. Nicht einmal den Klappentext. Ich war also denkbar schlecht vorbereitet. Das war bei mir in so manchem Schulfach die Regel. Um welches Stück genau es bei dieser Arbeit ging? Vergessen oder verdrängt. Ich weiß aber noch, dass ich auch fast alle anderen Werke, die wir im Deutsch-Unterricht behandelt haben, mit Missachtung gestraft habe. 

Im Falle von Effi Briest zum Beispiel ging mir nach der Hälfte des Buches die Luft aus, bei König Ödipus sogar schon nach der ersten Seite. Viel lieber hätte ich Der Fänger im Roggen gelesen. Oder Der alte Mann und das Meer. Auch Theodor Storms Schimmelreiter hätte mir wahrscheinlich auch schon damals sehr gut gefallen. 

Aber auch zu Schulzeiten war das Leben kein Wunschkonzert.

Entsprechend rechnete ich mit einer glatten Sechs! 

ebenfalls im Januar ruhten diese Nonnengänse am frühen Morgen auf einem vereisten Gewässer bei Greetsiel


Es war eine ganz junge Referendarin, die diese Klassenarbeit betreute. Wahrscheinlich war es sogar ihre erste Klassenarbeit überhaupt als angehende Lehrerin. Sie verteilte die Aufgaben und setzte sich zunächst auf ihren Stuhl am Pult, um etwas lustlos in einer Zeitschrift zu blättern. Ich studierte die Fragen und konnte natürlich nichts mit ihnen anfangen. Paul, das verfolgte ich aus den Augenwinkeln, legte sofort eifrig los. Irgendwann bemerkte er wohl meine Ratlosigkeit, doch weil wir geradezu auf dem Präsentierteller saßen, lehnte ich das Hilfsangebot, das er mir unauffällig machte, mit einem ebenso unauffälligen Kopfschütteln ab.

Die Sechs war schließlich fest eingeplant.

Doch irgendwann stand die junge Frau auf und schlenderte durch Raum und Zeit. Pauls Reaktion auf die neue Situation ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal schob er sein Heft gleich ein gutes Stück in meine Richtung. Was soll ich sagen, ich nahm das Angebot an und begann, seinen Text zu kopieren. Erst halbherzig, dann mit Vollgas. Gleichzeitig veränderte ich ihn ein wenig. Weil ich das Buch aber nicht gelesen hatte, beschränkten sich meine Veränderungen vor allem auf Satzbau und Struktur. Inhaltlich fügte ich nur unwesentliche Kleinigkeiten hinzu, ließ andere weg, damit der Betrug nicht zu offensichtlich wurde.

Nach zwei Stunden gab ich ab. Blutleer und ausgelaugt. Ich freute mich auf die heimliche Zigarette auf der Toilette, die ich mir meiner Meinung nach mehr als verdient hatte. Eine große Chance auf einen Erfolg rechnete ich mir nicht aus. 

Ganz bestimmt nicht.

Doch ein paar Tage später sollte die Sonne nicht nur draußen scheinen. Bevor die Referendarin die Hefte zurückgab, verkündete sie den Notenspiegel. Es gab nur eine Eins, nur wenige Zweien und viel Durchschnitt. Ich klopfte Paul auf die Schulter, weil ich mir sicher war, dass er wieder einmal der Klassenprimus sein würde. Doch die Referendarin gratulierte völlig überraschend mir zu meiner "herausragenden Leistung", während sie mir gleichzeitig mit einem Lächeln mein Heft in die Hand drückte. Ich hielt das für einen Scherz und konnte es nicht fassen. Ich hatte die einzige Eins ergattert. Das war mir zuletzt in der Grundschule gelungen! 

Ich freute mich überschwänglich. Doch gleichzeitig kam Unwohlsein in mir auf. Einerseits, weil ich die Bewertung der Referendarin Paul gegenüber als ungerecht empfand – er hatte "nur" eine sehr gute Zwei bekommen –, vor allem aber deshalb, weil ich mit verzögerter Enttarnung rechnete. Meiner regulären Deutschlehrerin wäre der Betrug wohl sofort aufgefallen. Doch dem Anschein nach hatte sie die Arbeiten und auch die Benotung der unerfahrenen Referendarin, die das Leistungsvermögen der einzelnen Schüler noch gar nicht einordnen konnte, nicht genauer unter die Lupe genommen.

Das Resultat dieser Klassenarbeit überragte meine bisherige Leistung im Deutsch-Unterricht zu dieser Zeit wie der K2 die höchsten Erhebungen des Teutoburger Waldes. Ich musste an einen ausschlagenden Polygraphen denken und spürte immer wieder die Hand, die sich wie in Zeitlupe von hinten meiner Schulter näherte: „Frank, wir wissen Bescheid.“

Doch auch in den folgenden Tagen geschah nichts.

Uferschnepfen balzten Anfang April in der Abenddämmerung über einem Gewässer im Riepster Hammrich. Das Bild entstand kurz nach Sonnenuntergang, der Himmel war wunderschön gezeichnet. Es ist immer wieder großartig, wenn Greta, so der ostfriesische Name dieser Vogelart, heil aus Afrika zurückkehrt und endlich wieder ihren Gesang über den weiten Wiesen erklingen lässt. Im selben Maße gilt das natürlich auch für alle anderen Vögel, die uns im Winter im Stich lassen

Während meiner Zeit am Gymnasium sollte es mir nie wieder gelingen, eine Eins im Fach Deutsch zu erringen.  Und bis heute ist mir auch nicht ganz klar, was die Lehrer seinerzeit von mir wollten.

Aber was ist aus Paul geworden?

Ehrlich, ich weiß es nicht.

Mit seinen Interessen und vor allem Talenten – dazu zählte auch seine großartige Schreibkunst, um die ich ihn immer beneidete – hätte er aus dem Stand heraus das Politik-Ressort jeder großen Tageszeitung dieser Republik übernehmen und den Laden im Alleingang schmeißen können.  

Davon bin ich auch heute noch überzeugt. 

Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel eindrucksvoll, dass das Abitur allein kein Maßstab sein kann. Denn wegen seiner sehr einseitig ausgeprägten Begabungen, die letztendlich zum Scheitern zumindest an unserer Schule geführt haben, bliebe Paul der Weg zum Politik-Redakteur verwehrt, obwohl er doch sicher das nötige Rüstzeug für diesen Job mitgebracht hätte. Nur für den Fall, dass er eine solche Karriere angestrebt haben sollte.


Lieber Paul, ich bedanke mich also noch einmal bei dir für diese selbstlose Geste der Nächstenliebe! 

Doch es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich mich nur wenige Wochen später bei Paul revanchieren konnte. Von Chemie hatte er nämlich absolut keine Ahnung ;-)


Anderes Thema: Ich hatte mich schon den ganzen Winter über auf die Knoblauchkröte gefreut. Da ich ja im vergangenen Frühjahr ein kleines Vorkommen bei Aurich entdeckt hatte, wären weitere Bilder von ihr keine große Herausforderung mehr gewesen. Doch leider hat es in den Wintermonaten kaum geregnet. Und entsprechend wenig Wasser fand ich bei einer Ortsbesichtigung Anfang April im Tümpel vor. Da war nur eine kleine Pfütze, die für das Laichgeschäft dieser Art nicht annähernd ausreicht.

Ich hoffe einfach mal auf 2018!


Weil ich kaum ansprechende Bilder zeigen kann, gibt es jetzt zum Abschluss noch einen Link zum lustigsten Herping-Video auf Youtube: klick!

Absolut sehenswert, denn diese Frau hat richtig Spaß! 


* Die gezeigten Bilder stehen in keinerlei Kontext zur Geschichte

** Name geändert