Freitag, 21. Juni 2019

Die bunte Invasion aus dem Süden

Alles Lüge!

Nichts als Unsinn!

Es gibt gar kein Insektensterben!

Und so weiter.

Ja, Kinners, das denken bestimmt zurzeit ganz viele Menschen, weil es gerade nur so wimmelt von Schmetterlingen.

Und das nicht etwa nur in Ostfriesland, sondern wahrscheinlich überall in unserer geilen Republik, also so von Flensburg bis Garmisch und von Aachen bis Forst.

Die wollen uns nur verarschen, diese Grünen, und uns Angst einjagen, denken diese Menschen ganz logisch weiter, weil sie sich in ihrem ganzen verfickten Leben nicht ein einziges Mal mit der Natur beschäftigt haben. Nicht eine Sekunde. Und jetzt sehen sie und zählen eins und eins zusammen.

Und was kommt am Ende dabei heraus?

Fünf.

Painted Lady is currently unbelivably abundant! This is probably the strongest invasion of this cosmoplolitan species since at least nine years – this picture shows a fresh specimen from late summer 2013, taken from the archives

Doch der Reihe nach.

Am 31. Mai, das hatte ich bereits im letzten Bericht vermeldet, war mir der erste Distelfalter der Saison begegnet. Schon am darauffolgenden Tag waren es mehrere. Doch was dann geschah, hatte ich hier seit knapp zehn Jahren nicht mehr erlebt. Der Distelfalter hat hier an der Küste zahlenmäßig inzwischen dermaßen zugelegt, dass es wirklich keinen Ort im Freien mehr gibt, an dem er einem nicht begegnet.

Wenn man mit dem Auto durch die Gegend fährt, sieht man ein Individuum nach dem anderen die Straße queren. Geht man irgendwo spazieren, ist es kaum anders. Dort, wo es blühende Pflanzen und somit Nektar gibt, kommt es automatisch zu großen Ansammlungen, sodass sich auf geringer Fläche von nur wenigen Quadratmetern gleich hundert Falter und mehr tummeln.

So etwa auf dem Rysumer Nacken, wo dieser Falter an Rapsblüten naschte: 


one of a million

Noch beliebter als Raps waren Brombeere, Schwarzer Holunder, Ölweide sowie Ackerkratzdistel.

Am 19. Juni 2019 wollte ich es genauer wissen.

Bei fast schon unangenehmen 27 ° Celsius saß ich gerade in meinem Wagen neben der Kleientnahmestelle bei Wybelsum und stopfte hastig wie immer einige Käsebrötchen in mich hinein, als mir wieder die vielen vorbeifliegenden Distelfalter in den Sinn kamen. Sie klopften geradezu an die Scheibe meines Wagens und bettelten um Aufmerksamkeit.

Also steckte ich in Gedanken einen Korridor von zwanzig Metern Breite ab und legte los. Jeder Falter, der innerhalb dieses Korridors an mir vorbeiflatterte, wurde in meinem Hirn abgespeichert. Interessant war, dass alle Schmetterlinge nach West-Süd-West zogen und nicht etwa in nördliche Richtungen. Aus dem Norden kam während meiner Zählung der schwache Wind, der aber erst am Abend mächtig auffrischen sollte. Einen Zusammenhang gibt es aber wohl nicht. Ich meine, als Distelfalter macht einem auch stärkerer Gegenwind kaum etwas aus.

Der von mir festgelegte Korridor reichte von meinem Wagen bis zu dem mit einem weißen Pfeil markierten Busch:

on 19th June 2019 I counted unbelievable 612 Painted Ladys, that were migrating through within only 30 minutes

Eine halbe Stunde hielt ich durch und zwar von 15:15 bis 15:45 Uhr.

Ich meine, man muss sich ganz schön konzentrieren, wenn man möglichst alle Tiere mitbekommen will. Zu oft zwinkern sollte man jedenfalls nicht.

Und was war das Ergebnis?

Unglaubliche 612 Distelfalter düsten innerhalb dieses Zeitfensters an mir vorbei! Das waren 20,4 Distelfalter in der Minute! Viele tauchten einzeln auf, doch oft huschten auch gleich ganze Gruppen von bis zu zehn Individuen an mir vorüber. Weil der Zug als solcher noch nicht anstrengend genug ist für einen Distelfalter, vergeudeten viele Individuen überschüssige Energie, indem sie Kollegen verfolgten oder sich immer wieder mit ihnen kabbelten. Das sah schon alles beeindruckend spielerisch aus und stellt für mich persönlich schon jetzt das naturkundliche Ereignis dieses Sommers dar.

Merksatz: Der geile Distelfalter ist und bleibt eine unglaublich faszinierende Art!

Doch natürlich hat so ein Massenauftreten auch eine Schattenseite. Als Distelfalter hat man es auf dem Zug grundsätzlich eilig und schaut gewiss weder nach links noch nach rechts, wenn man eine viel befahrene Straße überquert. Und man fliegt auch nicht hoch, sondern immer nur etwa einen bis zwei Meter über dem Boden.

Das Resultat: Einige viel befahrene Straßen waren geradezu übersät von verunglückten Faltern!

so many specimens died on the road after colliding with fast driving vehicles

Und wenn ich ehrlich sein soll: Auch ich habe den einen oder anderen Schmetterling erwischt!

Von meinem Zählplatz aus sah ich darüber hinaus, dass ein männliches Schwarzkehlchen mindestens zwei Distelfalter ebeutete und verspeiste.

Doch wenn man weiß, wie leicht sich dieser Vogel normalerweise damit tut, Fluginsekten wie Mücken und Fliegen zu fangen, der konnte gestern nur staunen. Denn es bedurfte gleich einer Vielzahl von Versuchen, bis es schließlich doch noch klappte. Ich vermute, es liegt am flattrigen und kaum berechenbaren Flugstil, den Tagfalter grundsätzlich so draufhaben. Und vielleicht werden sie deshalb auch nur selten von Vögeln gefangen.

Auffallend war auch, dass fast alle Tiere abgeflogen waren, das heißt, sie wirkten farblos und besaßen einen ausgefransten Flügelhinterrand, wenn auch nicht immer so krass wie im folgenden Fall:

specimen with heavily worn wings which indicates a long distance flight

Auch noch wichtig für die Statistik: Nur drei Distelfalter flogen in die entgegengesetzte Richtung!

Und das so entspannt und schaukelnd, dass man davon ausgehen kann, es hat sich in diesen Fällen um stationäre Tiere gehandelt. Gleichfalls nicht vorenthalten werden soll, dass auch viele Admirale unterwegs waren an diesem Tag, doch zahlenmäßig konnten sie mit den häufigeren Verwandten natürlich nicht mithalten. Im Gegensatz zum Distelfalter kann der Admiral auch bei uns überwintern, doch die derzeit auftretenden Zahlen legen den Schluss nahe, dass auch diese Art zurzeit massiv aus dem Süden zuwandert. So viele Individuen sieht man hier jedenfalls normalerweise erst im Spätsommer, nachdem die Flugzeit der zweiten Generation begonnen hat.

Achtung, noch ein Gast aus dem Süden:

















another visitor from the South: the Red-veined Darter

Wenn ihr einer Heidelibelle begegnet, egal, ob Kerl oder Frau, mit himmelblauen unteren Augenhälften, dann kann es sich nur um die Frühe Heidelibelle handeln.

Auch sie taucht alljährlich in Ostfriesland auf. Und zwar genau wie der Distelfalter in jahrweise stark schwankender Zahl. Und ebenfalls wie der Distelfalter vermehren sich die enwandernden Individuen bei uns, um dann im Herbst in größerer Zahl als Folgegeneration aufzutreten. Diese Tiere sterben, wenn die ersten Nchtfröste auftreten. Doch ein kleiner Teil schafft vielleicht sogar den Rückfkug nach Südeuropa. Beide Arten, Distelfalter und Frühe Heidelibelle, können also nicht bei uns überwintern und müssen alljährlich aus wintermilden Gebieten, die sich südlich der Alpen befinden, zu uns nach Norden einwandern.

Dieses Weibchen sah ich ebenfalls am 19. Juni, doch nicht etwa in Wybelsum, sondern auf dem Rysumer Nacken, wo mir später auch noch drei ausgefärbte Kerle begegneten.

Ebenda sah und fotografierte ich dann auch noch zwei singende Karmingimpel auf einmal:

male Common Rosefinch

Leider waren beide Männchen schlicht gefärbt; auf ein rotes werde ich also weiterhin warten müssen.

Der zweite Vogel sang etwa 500 Meter vom ersten entfernt und deutlich versteckter:

second male

Als Langstreckenzieher überwintert der Karmingimpel als eine der wenigen heimischen Vogelarten in Indien und nicht etwa in Afrika. Darüber hinaus stellt er die am spätesten heimkehrende Vogelart unserer Breiten dar. Die ersten Individuen tauchen in Ostfriesland nicht vor Ende Mai auf.

Morgens auf dem Rysumer Hammrich:


landsape

Rechts von den Bäumen singt in den letzten Wochen immer eine Wachtel, die sich aber natürlich niemals blicken lässt.

Ein Wespenbussard kreiste bereits am 17. Juni gemeinsam mit einem Graureiher am Himmel und schaute sich Greetsiel von oben an:

migrating Honey Buzzard with Grey Heron 

Er war so dermaßen geschockt von den durch die engen Gassen des Fischerdorfes wabernden Menschenmassen, dass er sich während seines Fluges die Augen zuhielt, um dann ganz schnell nach Nordwest abzuziehen.

Am 15. Juni sah ich diesen adulten Seeadler in der Nähe der Seeschleuse auf einer Weide stehen:


White-tailed Eagle

Er war fast so groß wie die dort arbeitenden Deichschafe, die sich zum Zeitpunkt der Aufnahme knapp außerhalb des Bildes befanden.

Ganz in der Nähe fotografierte ich Familie Sturmmöwe:


Common Gull with offspring

Es handelt sich hier um die Vögel, die auf dem Steg gebrütet haben (vgl. letzten Bericht).

Aus vier Eiern schlüpften drei Küken. Eines war so schwach, dass es noch am selben Tag verstarb. Ein weiteres verschwand in den daraufolgenden Tagen, ohne dass mir der Grund dafür bekannt wäre. Das letzte Kind wird jetzt besonders verwöhnt, weil es ja nicht mehr teilen muss. Bleibt zu hoffen, dass es durchkommt und irgendwann selbst für Nachwuchs sorgen kann.

Diese Bachstelze konnte natürlich nicht um die Ecke gucken und die Gefahr erkennen, die dort lauerte ;-)


White Wagtail with young Common Gull 

Mariendisteln aufeinem Acker bei Pilsum:

pretty Milk Thistle

Diese imposante und eigentlich aus dem Mittelmeerraum stammende Art wird in Ostfriesland zur Gewinnung pharmazeutischer Wirkstoffe angebaut und verwildert auch gelegentlich:

same species

Womit wir wieder beim Distelfalter wären.

Das massenhafte Auftreten dieser Art in Deutschland darf nicht falsch interpretiert werden.

Der Distelfalter ist eine sehr anspruchslose Art, die nahezu überall leben kann. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass sich die Raupe gleich von einer Vielzahl verschiedenster Pflanzen ernähren kann. Diese Eigenschaft hat den Distelfalter zu einem echten Kosmopoliten werden lassen, der in manchen Jahren bis nach Island oder gar Grönland fliegt.

Die zurzeit vielen Falter sagen also nichts über den äußerst kritischen Zustand unserer Natur aus!

Das Artensterben ist in vollem Gange. Alles, was anspruchsvoll ist, hat sich längst aus unseren Breiten verabschiedet. Das gilt auch für einige Tagfalterarten, die einst in Ostfriesland häufig waren. So schön die vielen in diesen Tagen in unseren Gärten und auf der grünen Wiese flatternden Schmetterlinge auch sein mögen, sie sind nichts anderes als eine trügerische Momentaufnahme.

Gülle ohne Ende:


many species, not just butterflies, have declined heavily the past decades. The main reason is man-made cultivation. The permanent input of liquid manure (picture) and pesticides causes this dramatic loss of diversity

Der fortwährende und immense Einsatz von Chemie und Gülle in unserer Landschaft sorgt im Zusammenspiel mit x-facher Mahd dafür, dass Artenvielfalt gar nicht mehr entstehen kann. Wenn selbst kleinste Flächen wie hier am Nordostufer des Mahlbusens an der Knock nicht aus der Bewirtschaftung herausgenommen werden können, wenn Straßen- und Wegränder pausenlos gemäht und gemulcht werden, sobald im Frühjahr der Wiesenkerbel zu blühen beginnt, dann ist eben auch nicht mit Besserung zu rechnen.

Es hat sich in meinem Hirn der Eindruck festgesetzt, dass in diesem Land kein Platz mehr ist für ursprüngliche Natur.

Also, meine lieben Menschen da draußen, genießt die vielen Flattermänner einfach:

Red Admiral

Man weiß schließlich nie, wann es bei uns das nächste Mal zu ener bunten Invasion aus dem Süden kommen wird.

Nachtrag: Dank Axel Book (Westoverledingen) weiß ich jetzt, woher diese ganzen Biester kommen. Den Link, den er mir geschickt hat, reiche ich einfach an euch weiter: klick!

Lest den Artikel, Kinners, denn es lohnt sich!