Montag, 21. Juni 2021

Rysumer Nacken in Gefahr

Eigentlich hatte ich nur über einen Graben springen wollen.

Wenn ich geahnt hätte, was daraus erwächst, dann wäre mir eine bessere Alternative eingefallen. 

Ganz bestimmt!

Doch der Reihe nach.

Am letzten Sonntag stand ich an einem Entwässerungsgraben bei Upleward. Ich wollte auf die andere Seite, doch eine Brücke war weit und breit nicht zu sehen. 

Also ging ich ein paar Schritte zurück und spurtete los. Früher war für mich kein Graben unüberwindbar. Meine ganz besondere Spezialiät waren Gräben mit einer Breite von 8,91 Metern, die ich quasi im Tagesrhythmus übersprang. 

Inzwischen bin ich natürlich viel älter geworden und habe längst die Gravitation kennengelernt. Doch dass ich an diesem Tag erst gar nicht abhob, hatte einen anderen Grund. Ich rutschte aus und konnte mich gerade noch mit beiden Händen am oberen Rand der Böschung abstützen. 

Und da saß ich dann. Ich entdeckte Toilettenpapier, und der Geruch von Kot kroch mir in die Nase. 

Menschenkot! 

Nein, bitte nicht, so dachte ich sofort. Alles, aber nur das nicht. Wie in Zeitlupe blickte ich nach links. Kacke quoll zwischen meinen Fingern hervor. Ich hatte im Fallen tatsächlich mitten in die Wurst gegriffen! "Scheiße!" fluchte ich passend. Diese verfickten Camper überall. Diese kulturlosen Arschlöcher, so dachte ich, die jedem noch so bescheuerten Trend hinterherlaufen, weil sie einfach kein eigenes Ich haben! 

Irgendwann werde ich euch alle töten müssen! Wenn ich doch nur wüsste, wo ich meine Pumpgun das letzte Mal eingesetzt habe. Ich kann sie einfach nicht finden.

Ich saß also da und konnte den Blick nicht von meiner linken Hand lösen. Und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich traute, sie anzuheben, mich überhaupt zu bewegen. Ehrlich, Kinners, wenn ich in diesem Augenblick ein Beil gehabt hätte, ich hätte sie abgehackt. Wäre da eine Säge in der Nähe gewesen, ich hätte die Hand abgesägt. Ich will dich nicht mehr haben, dachte ich, du bist jetzt kein Teil mehr von mir.  

Du bist entweiht.

Immerhin, meine Hose war sauber, alles andere auch. Ich war also gar nicht auf der Kacke ausgerutscht. Das ist doch auch schon mal was, so dachte ich. Glücklicherweise war es nicht weit bis zum so genannten Trockenstrand. Im dortigen Sanitärhaus wusch ich mir etwa siebenmal die Hände. Später, zu Hause, sollten weitere vierzig Male folgen. Und sicherheitshalber stellte ich mich auch noch zwei Stunden unter die Dusche...

Der Rysumer Nacken liegt direkt an der Emsmümdung:


beautiful landscape at so called Rysumer Nacken

Es ist eines der ganz wenigen Gebiete in Ostfriesland, wo man wirklich interessante Pflanzen und Tiere antreffen kann.

Der Grund dafür: Es wird dort in weiten Teilen weder gedüngt noch gemäht. 


Vor ganz vielen Jahren, ich weiß nicht genau, wann das war, ist die heutige Landschaft auf dem Rysumer Nacken durch das Aufspülen von Sand aus der Ems entstanden. 

Der Mensch kann also auch was Positives erschaffen. 

Der Tatsache, dass es sich hier um einen mageren und sandigen Boden handelt, verdankt der Rysumer Nacken seine für Kontinentalostfriesland einzigartige Artenvielfalt, wie man sie sonst eher auf den Inseln erwarten würde. Näher ins Detail gehen werde ich jetzt aber nicht, weil das den Rahmen sprengen würde.

Ein paar Blümchen kann ich aber zeigen: 



Viper's Bugloss

Der superhübsche Natternkopf (oben) blüht auf dem Rysumer Nacken zurzeit ebenso wie der wahrscheinlich angesalbte Wiesensalbei (daher der Name :):


Meadow Cleary

Schmalblättriges Greiskraut:

Narrow-leaved Ragwort, actually native to South Africa

Diese Pflanze stammt ursprünglich aus Südafrika. 

Große Bestände des Gewöhnlichen Hornklees dienen dem einst so häufigen, heute aber seltenen Gemeinen Bläuling als Lebensgrundlage:


Common Bird's Foot Trefoil

Die Raupen essen von der Pflanze, die Falter lieben ihren Nektar.

Der Gewöhnliche Hornklee wächst zwar auch vereinzelt am Deichfuß der Krummhörner Küste, doch ausgedehnte Bestände findet man sonst nur noch an der Seeschleuse des Leyhörn, wo es sich die Pflanzen in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen gemütlich gemacht haben und alljährlich hübsche gelbe Kissen ausbilden. 

Kein Raps, sondern Barbarakraut:



Bittercress

Aus der Nähe: 


same

Am frühen Morgen des vergangenen Samstag entdeckte ich gegen sechs Uhr eine Waldohreule, die auf einem frischen Heuballen stand und noch auf spätes Jagdglück hoffte:


Long-eared Owl waiting for food 

Das Gebüsch rechts von mir, das ich als Deckung nutzte, erlaubte mir diese Aufnahme. 

Doch zufrieden war ich nicht. Ich wollte auch ein Bild haben mit dem Licht im Rücken. Langsam ging ich also zurück, um dann dieses Gebüsch, in dem ich im vergangenen Herbst einen undankbaren Dunkellaubsänger entdeckt hatte, zu umrunden.  

Auf der anderen Seite bot sich mir dieses Bild:



same

Und dann sah sie mich auch schon:


why are you staring at me?

2021 ist ein verdammt gutes Jahr für den Neuntöter auf dem Rysumer Nacken:


2021 is a good year for Red-backed Shrike (two males can be found on this picture)

Wer genau hinsieht, kann zwei Männchen finden, eines davon befindet sich allerdings weit außerhalb der Schärfenebene. 

Doch damit nicht genug, befand sich doch noch ein weiteres Männchen in meinem Rücken. Insgesamt sind es in diesem Jahr (bislang) neun Paare auf dem Rysumer Nacken und mindestens weitere drei im unweiten Wybelsumer Polder (beides Stadt Emden). 

Das ist schon etwas ganz Besonderes, denn der erste Neuntöter-Brutnachweis für die Seehafenstadt überhaupt war mir erst 2012 gelungen! Seit diesem Jahr ist es für diese nicht ganz anspruchslose Art im äußersten Westen Emdens stetig bergauf gegangen. 

Und das Beispiel zeigt ganz eindrucksvoll, warum die abscheuliche und sinnfreie Jagd auf Kleinvögel im Mittelmeerraum nicht wirklich die Ursache sein kann für den Artenschwund in Mitteleuropa, wie es so oft behauptet wird. Allenfalls kann sie als Zünglein an der Waage fungieren, so wie ja auch der letzte Birkhahn am Ewigen Meer ganz artgerecht einer Ladung Schrot zum Opfer gefallen sein soll. 

Die Ursache für das Aussterben von Vogelarten und natürlich auch anderen Tieren und Pflanzen ist meiner Meinung nach zu 99,98 Prozent die intensive Nutzung der Landschaft vor unserer Haustür. Entwickelt sich aber ein Gebiet ausnahmsweise mal in die richtige Richtung, wird schnell klar, welches Potenzial auch heute noch vorhanden ist.

Der Mensch muss sich nur raushalten; die Natur hätte auch heute noch alles im Griff.



Goldmoss Stonecrop with pretty Bushgrass in da background

(Scharfer) Mauerpfeffer im Vordergrund und Landreitgras im Hintergrund.

Der Rysumer Nacken ist hier in Ostfriesland das einzige mir bekannte Gebiet, in dem dieses hübsche Gras in ausgedehnten Beständen wachsen darf. Jedenfalls habe ich es sonst nirgends gefunden. 

Im Spätsommer wimmelt es in diesen Flächen von fetten weiblichen Wespenspinnen, und eines Tages, da bin ich mir hundertprozentig sicher, werde ich dort auch den allerersten ostfriesischen Dornfinger finden. Nach seinen Kinderstuben halte ich tatsächlich in jedem Jahr Ausschau. 

Die Emder Crau:



Hier kann man wieder einige Exemplare des Natternkopfes sehen.  

Ein Rätselvogel, vor kurzem beleggeknipst auf dem Rysumer Nacken:


mystery bird


singing male Common Rosefinch and typical habitat

Der Karmingimpel ist ein noch recht junger Brutvogel Deutschlands. 

Auf dem Rysumer Nacken kann man ihn alljärlich beobachten. Ich selbst habe dort schon viele singende Männchen gesehen, auch schon verpaarte und sogar warnende Individuen, doch bis heute liegt kein einziger Brutnachweis für das Gebiet vor!

Vielleicht wird es ja in diesem Sommer klappen. Jedenfalls habe ich mir da so Einiges vorgenommen. 

Dieses vorjährige Männchen stand und trällerte am ganz frühen Morgen auf einer exklusiven Warte mit Seeblick:


same specimen

Eigentlich war es eher eine Warte mit Flussmündungsblick oder so. 

Nicht lang schnacken, Kopp in' Nacken:



singing

Umgekehrt passte es besser.

Das dünne und sehr einfache, in Dauerschleife vorgetragene Lied des Karmingimpels trägt überraschend weit. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es mal sehr laut klingt – gerade so, als befände sich der Vogel nur wenige Meter entfernt – und dann wieder extrem leise, wie aus einer riesigen Distanz. Und das schafft der kleine Sänger, ohne die Singwarte zu wechseln, indem er seinen Schnabel einfach mal in die eine, mal in die andere Richtung hält.

Keine weitere Vogelart ist mir bekannt, wo dieses Phänomen so deutlich in Erscheinung tritt. Nicht einmal der auf dem Rysumer Nacken so häufige Feldschwirl kann da mithalten. Ich schreibe das hier, um zu verdeutlichen, dass es nicht immer ganz einfach ist, einen singenden Karmingimpel auch zu entdecken. Hinzu kommt, dass er keineswegs nur auf exponierten Warten singt, sondern auch mitten in einem Busch und sogar am Boden während der Nahrungssuche. 

Schnell noch ein Weibchen, das eigentlich genauso wie ein immatures Männchen aussieht:


female

Mehr zu dieser interessanten Vogelart gibt es in einem späteren Beitrag. 

Das kann ich jetzt schon mal versprechen ;-)

 

Wenn ich im Outback unterwegs bin, dringt manchmal auch meine weiche Seite nach außen. 

Hier zum Beispiel:


this young Oystercatcher has been tangled in a fishing line. I rescued him within seconds and am now a hero

Dieser Austernfischer-Bengel hatte sich am Ufer der Emsmündung in eine Angelschnur verheddert. Allein hätte er sich niemals befreien können.

Und an diesem Ort laufen viele Hunde herum. Ich hätte die traurige Situation noch fotografieren können, doch ich war der Meinung, dass es auf jede Sekunde ankam. Mit einer Schere, die ich immer in meinem Rucksack durch die Gegend schleppe, machte ich genau sieben Schnitte. Dann war der plüschige Vogel auch schon wieder frei.

Er dankte mir mit lauten Rufen. Und seine Eltern, die helikoptermäßig über mir kreisten, taten ihm gleich. 

Scheißsituation, würde ich mal behaupten:



stuck in a small tree. Frank, free me!

Morgens um fünf bemerkte ich im Vorbeifahren und noch schlaftrunken auf der "Emder Serengeti" diese Kuh, die an einem Busch zu knabbern schien. 

Als ich etwa vier Stunden später in die andere Richtung fuhr, stand sie immer noch da. Erst jetzt schaute ich genauer hin. Erst musste ich lachen, dann schoss ich ein paar Fotos, und schließlich bekam ich Mitleid. Ich setzte mich ins Auto und steuerte den nächsten Hof an, um dort Bescheid zu geben. Der Mann, der mir die Tür öffnete, musste auch schmunzeln, als ich ihm das Bild zeigte, versicherte mir aber auch sofort, den Besitzer der schönen Rinder über die missliche Situation eines seiner Tiere zu informieren. 

Ja, ihr braucht nicht zu applaudieren. Ich weiß auch so, ich bin ein Held!

Es folgen wieder ein paar Landschaftsaufnahmen:



Der letzte Busch vor NL:


Fast in jedem Jahr brütet darin die Klappergrasmücke.  

Sanddorn breitet sich leider sehr schnell aus und wuchert die so schönen und für viele Pflanzen so wichtigen Freiflächen zu:


Wiesenbocksbart:


Meadow Salsify

Neulich bemerkte ich folgende Schlagzeile auf dem Titel der Emder Zeitung: "Rysumer Nacken als Industriegebiet begehrt"

Normalerweise lese ich schon seit Jahren keine Tageszeitungen mehr. Ich meine, es steht doch eh nur das drin, was das Parteibuch des Herausgebers zulässt. Aber diesmal hatte ich keine Wahl, stand ich doch in der Schlange an der Kasse eines Supermarktes und ließ meinen Blick gelangweilt schweifen.

Seit sehr vielen Jahren träumt die Stadt Emden davon, den "trostlosen" Rysumer Nacken zu "entwickeln". Mal will sie einen neuen Hafen aus dem Boden stampfen, obwohl doch schon im alten Flaute herrscht, mal soll es ein Industriegebiet werden, das die Welt so noch nie gesehen hat. 

Der Rysumer Nacken ist eigentlich schon seit langem ein Industriegebiet, und der einzige Betrieb dort, die GASSCO SA, ein norwegischer Erdgasanlander und -aufbereiter, nimmt einen guten Teil der Fläche ein. 

Ach, wie schön wäre es doch, wenn man es dabei bewenden ließe. 

Jetzt und auch schon in der Vergangenheit habe ich mich immer wieder gefragt, ob die Menschen denn am Ende wirklich gar nichts übrig lassen werden. Wir leben in einem Land praktisch ohne Bevölkerungszuwachs, doch der Flächenverbrauch will einfach nicht enden. 

Es wird immer Wachstum gefordert.Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum. Aber unser kleines Land wird nicht größer werden. Oder steht da etwa wieder ein Eroberungsfeldzug um Lebensraum im Osten an, von dem ich noch nichts weiß?

Weitere Industrieansiedlung bedeutete im Falle des Rysumer Nackens jedenfalls das Aus u. a. für das Braunkehlchen (die letzten Emder Brutpaare), das Echte Tausendgüldenkraut, für das Übersehene Knabenkraut und den Echten Sumpfstendel

Ich weiß, den meisten Menschen wäre das völlig egal.

Man kann davon ausgehen, dass das folgende Bild die Zukunft passend illustriert:




world wide future landscape with Pheasant

Es zeigt einen Fasan in einem Getreidefeld. 

In Ostfriesland sieht die Landschaft ja schon heute in weiten Teilen so aus. 

Viel schlimmer kann es hier also kaum kommen.  

Es folgt des Rätsels Lösung:



mystery bird is a 2nd cy Mediterranean Gull

Unglaubliche drei Schwarzkopfmöwen standen da unter Lach- und diversen Großmöwen auf einer Fläche herum! 

Nie zuvor hatte ich in Deutschland so viele Schwarzkopfmöwen zusammen gesehen. Neben diesem Vogel im 2. Kalenderajhr waren auch noch zwei Altvögel anwesend, die sich mir gegenüber aber leider sehr scheu präsentierten und nicht mehr als schlechte Belegfotos zuließen. 

Die Geschichte mit der Waldohreule möchte auch weitererzählt werden.

Wenn Blicke töten könnten:


same LEO as in the beginning

Als der Vogel seinen Blick auf mich richtete, rechnete ich mit seinem sofortigen Abflug.

Doch zu meinem Erstaunen blieb er einfach stehen. Langsam ging ich immer weiter auf den Vogel zu, bis es ausreichte. Ich hatte das hier schon mal erwähnt: Viele Eulen nehmen eine Tarnstellung ein, wenn sie sich bedroht fühlen, machen sich schlank und schieben einen Flügel vor die Unterseite. 

Auch diese Waldohreule war da keine Ausnahme:



"Lass es, das bringt doch jetzt auch nichts mehr", sagte ich in ganz ruhigem Tonfall zu dem Vogel.

Die Waldohreule blieb wie eingefroren stehen und machte sich noch länger und noch schlanker. Fast hatte sie die Form von Papenburg-Neuguinea erreicht (überprüft das bitte auf der Karte), als ich zwecks Kontrolle der bereits gemachten Aufnahmen einen kurzen Blick auf das Display meiner Kamera warf. 

Als ich wieder aufsah, war die Eule verschwunden. Lautlos abgeflogen, einfach so.

Den Bruchteil einer Sekunde später erklangen die Warnrufe einer Gartengrasmücke aus einem nur wenige Meter entfernt stehenden, dichten Holunderbusch. Und weil sich der kleine Vogel nicht mehr beruhigen wollte, konnte ich davon ausgehen, dass er unerwünschten Besuch bekommen hatte.

Ich freute mich über diese unerwartete Begegnung und begab mich beschwingt auf den Weg zurück zu meinem Wagen. 

Der Fortbestand des Rysumer Nackens, so, wie er sich heute präsentiert, hängt am seidenen Faden. Dieses Schicksal teilt er mit so vielen auch heute noch interessanten Gebieten in unserer Republik. Das ging mir durch den Kopf, als ich vom Parkplatz fuhr. Die Tatsache, dass sich dort in den letzten Jahrzehnten trotz der vielen wirren und öffentlichen Überlegungen noch nichts getan hat, bedeutet nicht, dass das auch in Zukunft so bleiben wird. 

Man darf die Menschen als rücksichtslose Zerstörer grundsätzlich nicht unterschätzen. 


Meadow Cleary  one last time

Kein schönes Ende heute. 

Ich weiß das.