Donnerstag, 26. Mai 2022

Mornell

Kinners, ein Traum ist wahr geworden!

Am 20. Mai 2022, das war ein Freitag, räumte eine Tippgemeinschaft einen sagenhaften Jackpot ab.

110 Millionen Euro und damit die wahrscheinlich höchste Gewinnsumme überhaupt in der Lottogeschichte unserer geilen Republik gingen an 15 Glücksritter aus Nordrhein-Westfalen.

Da kann man nur gratulieren!

Ich selbst spiele kein Lotto.

Und trotzdem gab es nur einen Tag später auch für mich eine unerwartete Gewinnausschüttung.

Nicht irgendeine Lottogesellschaft zeichnete dafür verantwortlich, sondern – wieder einmal – Mutter Natur.

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie bedeutsam dieser Gewinn für mich gewesen ist. 

Versuchen werde ich es aber trotzdem.

Heute, ihr lieben Mitmenschen da draußen, geht es um sie hier:


this beautiful female Eurasian Dotterel had a rest on a field near my home over two days in May 2022

Genau, es geht um diese hübsche Mornellregenpfeifer-Dame!

Doch der Reihe nach.

An diesem denkwürdigen Samstag-Abend saß ich auf meinem Ausguck, einem Erdhügel im Bereich der Deichbaustelle bei Hamswehrum, und beobachtete gespannt die mich umgebende Vogelwelt. 

Viele Sand- und Kleihaufen dort ziehen seit Monaten unzählige Vögel unterschiedlichster Couleur an wie das Licht die Nachtfalter.  

Neben einigen Steinschmätzern, Schafstelzen und Wiesenpiepern hatte ich an diesem Abend auch drei Uferschwalben-Paare entdeckt, die dort zu brüten beabsichtigen. Eine Höhle ist sogar schon fertig. Meine Prognose für eine Brut an diesem Ort fällt aber ungünstig aus, denn auf einer Deichbaustelle hat nicht einmal die schönste Steilwand eine beständige Zukunft. Schon morgen könnten Raupe und Radlader anrücken und dem fröhlichen Schwalben-Treiben ein unglückliches Ende bereiten. 

Das sagte ich den Vögeln auch, nur um dann aufzustehen und mich auf den Weg nach Hause zu machen. Wenig später passierte ich einen Acker, auf dem ich bereits am 13. Mai 2022 sieben Mornellregenpfeifer entdeckt und nur schlecht fotografiert hatte. Leider hatten die Vögel nur eine kurze Rast eingelegt und waren nach etwa einer halben Stunde Richtung Nordost abgeflogen. Meine Freude über diese Begegnung hielt sich entsprechend in Grenzen.

Jetzt entdeckte ich mit bloßem Auge und in größerer Entfernung nicht nur auf demselben Acker, sondern exakt an derselben Stelle wieder etwas dunkles Rundliches. Ich schaute durchs Fernglas und staunte ein weiteres Mal.

Da stand doch glatt wieder ein Mornell herum!

Seht:





all pictures show the same specimen

Die Sonne stand schon sehr tief und drohte bereits in die Emsmündung zu plumpsen, weshalb ich nur noch auf die Schnelle schlechte Belegfotos anfertigen konnte.

Ich blieb überraschend gelassen und hoffte einfach auf den nächsten Tag.

Muss am Alter liegen.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich freue mich auch heute noch wie ein kleines Kind, wenn ich weiß, dass nach langer Durststrecke endlich mal wieder ein großartiges Fotoshooting ansteht. Und ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass meine Vorfreude auf das, was da kommen würde, in diesem speziellen Fall so groß war, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte – obwohl ich absichtlich erst gegen Mitternacht ins Bett ging. Den Wecker hatte ich am Abend sicherheitshalber auf vier Uhr gestellt, denn es hätte ja schlimmstenfalls sein können, dass ich am Ende im entscheidenden Moment doch noch einpenne. 

So wäre da noch ein kleiner Zeitpuffer gewesen.

Natürlich wollte ich auf keinen Fall verschlafen, denn niemals hätte ich es mir verziehen, diese einzigartige Gelegenheit, einen Mornell zu fotografieren, ungenutzt verstreichen zu lassen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen konnte, ob der seltene Gast am kommenden Morgen überhaupt noch vor Ort sein würde. 

Für mich stand aber fest: An so einen Tag darf man sich nicht den kleinsten Patzer erlauben!

Als ich am Tatort ankam, war es noch finster wie Sau:


THE morning, when I searched for the Dotterel, that I had found the previous evening

Nur der schöne, leicht verschleierte Mond leuchtete in kalten Farben am dunklen Himmel.

Ausnahmsweise hatte ich zu Hause aufs Frühstück verzichtet, das mache ich sonst nie, doch jetzt fand ich noch die Zeit, im Auto ein paar Kekse zu reißen und mit Wasser hinunterzuspülen. Eine halbe Stunde später betrat ich mit einer gesunden Erwartungshaltung den Rand des Ackers. Zunächst suchte ich ihn mit dem Fernglas nach dem Mornell ab, doch finden konnte ich den Vogel nicht. 

Erst nachdem ich zwei komplette Runden gedreht hatte und schon mächtig enttäuscht war, stand er plötzlich vor mir:



so cute before sunrise

"Wie süß bist denn du?" fragte ich den Vogel im Überschwang.

Jau, Kinners, erst im letzten Bericht hatte ich euch Bilder von den oben erwähnten sieben Mornellregenpfeifern gezeigt. 

Maximal mittelmäßige Bilder, wie ich finde. Folgerichtig schrieb ich, dass diese Fotos nicht ausreichten für einen eigenen Beitrag, weshalb ich sie einfach bei den Schafstelzen unterbrachte.

In diesem letzten Bericht äußerte ich darüber hinaus die berechtigte Befürchtung, wahrscheinlich wieder Jahrzehnte auf meine nächste Begegnung mit dieser Wunschart warten zu müssen. Das wäre kritisch geworden bei meinem Alter. Weil ich nicht damit rechnen konnte, dass es tatsächlich gerade mal acht Tage dauern würde bis zum nächsten Mornell und ich im letzten Bericht schon so einiges zu dieser Vogelart geschrieben hatte, werde ich mich jetzt ein wenig wiederholen müssen.

Um den Wert dieser neuen Beobachtung eines adulten Weibchens für mich persönlich vernünftig einordnen zu können, berichte ich nun also von meinen bisherigen drei Mornell-Feststellungen, die mir ausnahmslos hier in Ostfriesland gelangen. 

Die erste sogar lange vor meinem Umzug in den platten Nordwesten: Am 25. August 1995 rollte mir ein junger Mornell auf dem Deich bei Dornumersiel regelrecht vor die Füße. Genießen konnte ich den Vogel nicht, denn es regnete in Strömen, und weil diese Beobachtung im Rahmen einer Wasservogelzählung stattfand, musste ich ich ohnehin gleich weitermarschieren, um pünktlich das Ende meiner Zählstrecke zu erreichen, wo man mich abholen wollte. 

Am liebsten hätte ich den Vogel einfach in meinen Rucksack gepackt und mitgenommen.

Am 30. September 2020, also erst satte 25 Jahre später, sah ich bei Manslagt einen durchziehenden Jungvogel, der nicht einmal eine kurze Landung in Erwägung zog, sondern stattdessen noch einmal richtig Gas gab und rasch aus meinem Dunstkreis verschwand. Es war an diesem Tag das erste Mal, dass ich den Ruf eines Mornells live im Outback hörte. Zuvor war mir die Stimme nur von xeno-canto her bekannt gewesen.

Es folgten der siebenköpfige Trupp vom 13. Mai 2022 und zu guter Letzt eben das hier und heute ausführlich vorgestellte adulte Weibchen, das ich nun zu sehr früher Stunde mit einem Lächeln auf den Lippen bestaunte. 

Zeit für Morgengymnastik:




making gymnastics in the morning

Ganz vorsichtig näherte ich mich dem Mornell, doch als ich bis auf 15 Meter herangekommen war, ging er ein paar Schritte, um die alte Distanz zwischen uns wiederherzustellen. 

Nicht schnell, sondern eher wie in Zeitlupe.

15 Meter sind zuviel für meine kurze Kinderlinse, dachte und wusste ich. Also holte ich meine Mehlwürmer aus dem Rucksack und legte sie genau dort aus, wo der Mornell am Abend zuvor nach Nahrung gesucht hatte. Nur wenige Minuten später hatte der Vogel die mal so eben von mir neu geschaffene Nahrungsquelle auch schon entdeckt. 

Und ganz spontan einen Entschluss gefasst: Auf diesem Quadratmeter werde ich den ganzen Tag verbringen.  

Und das tat er dann auch.

Kuckuck:



it might be unbelievable, but this bird cosntitutes only my fourth encounter with this most wanted species, and I am not twenty anymore

Jetzt konnte ich mich dem Mornell ganz behutsam nähern. 

Die letzten Meter legte ich mal wieder auf dem Bauch zurück. Es war erstaunlich, aber der Vogel zeigte nun so gar keine Scheu mehr. 

Er machte nicht einmal einen langen Hals.

Diese ersten Bilder schoss ich noch vor Sonnenaufgang mit einer Fünfzigstelsekunde und frei aus der Hand. Mein Stativ hätte mich nur in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt; ich hatte es gewohnheitsmäßig gleich im Wagen liegen lassen. An dieser Stelle möchte ich die günstige Gelegenheit nutzen und jenem Menschen danken, der den Bildstabilisator erfunden hat.

Ich nehme an, es war ein japanischer Ingenieur.

Meine Kamera klickte nun wie wild, doch auf eine angemessene Reaktion des Vogels auf den Lärm wartete ich vergeblich:



with the support of my army of Mealworms I lured the bird in front of my camera. Right from the beginning this Dotterel was not really shy, but after he had found this unlimited food source, he became tame as hell 

Ganz ungerührt stand er da.

In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen, das konnte selbst ich nicht verhindern.

Leider war der Himmel an diesem Morgen so klar wie das Wasser eines sprudelnden Gebirgsbachs, und das Licht, das war so sicher wie das viel zitierte Amen in der Glockendisko, würde zu schnell viel zu grell werden.




all Dotterels of my life I found on my own

Immer wieder blickte ich nervös nach hinten, wo die Sonne bald aufgehen würde, und Panik breitete sich in mir aus. Sollte es wirklich nur für wenige brauchbare Aufnahmen reichen?

Dann entdeckte ich doch noch einige Schleierwolken, die etwas zögerlich von Osten her auf den Vogel und mich zukamen, und ich entspannte mich im Rahmen meiner eng gesteckten Möglichkeiten ein wenig.

Auch auf nur einem Bein steht es sich gut:


look, the Dotterel didn't care about me at all. Actually he completely ignored me! And I still don't know whether it is a compliment or not



so cute

Mit der Kompaktkamera (viel später) fotografiert:


taken with my compact camera

Normalerweise halte ich nicht so viel davon, Vögel mit geringster Brennweite zu fotografieren.

In diesem Fall konnte ich aber ruhigen Gewissens eine Ausnahme machen, weil der Mornell absolut störungsresistent war. Viele Bilder hier illustrieren das ja auch sehr eindrucksvoll! Ich meine, ich bin ihm ja auch nicht ständig mit meiner Knipse in der Hand hinterhergerobbt – ich stelle mir diese Situation gerade vor und muss lachen –,  sondern es war der Vogel, der zu mir kam. Wenn auch nur wegen der Mehlwürmer.

Und so ganz aus der Nähe konnte ich Interessantes beobachten.

Am frühen Morgen z. B. nahm der Mornell Flüssigkeit auf, indem er sich an den Tautropfen auf den Blättern des Rapses bediente. Später, ich hatte die Kamera wegen des inzwischen so grell gewordenen Lichts längst im Auto verstaut, machte er genau das, was die bereits im letzten Bericht erwähnten sieben Mornellregenpfeifer etwa eine Woche zuvor am selben Ort auch schon getan hatten: Der Vogel zupfte Rapsblätter und verschlang beachtlich große Stücke. 

Mich erinnerte dieses Verhalten an die extreme Kältephase im Februar 2021, als plötzlich so unglaublich viele Feldlerchen in der Krummhörn auftauchten, die sehr wahrscheinlich zuvor weiter im Norden oder Osten  überwintert hatten. Wahrscheinlich in Ermangelung geeigneterer Nahrung aßen auch sie fleißig Rapsblätter, die sie, wie jetzt der Mornell, in Stücken hinunterschlangen.

Für den Mornell wird es aber keinen Nahrungsengpass gegeben haben bei seiner Rast auf dem Acker. Für ihn ist das Verzehren solcher Kost wohl nicht ungewöhnlich, wie mir der entsprechende Artikel auf Wikipedia verraten hat.

Und so sahen die noch jungen Rapspflänzchen auf dem Acker bei Manslagt am Tag des Shootings aus:


the Dotterel drank morning dew and surprisingly ate Rapeseed leaves, what I did not expect 

Kinners, ich muss auch einräumen, die Rufe des Mornells zu diesem Zeitpunkt noch nicht in ihrer ganzen Bandbreite gekannt zu haben.

Dieser Vogel war nämlich keineswegs stumm, während er da vor mir stand. In fast schon regelmäßigen Abständen von etwa einer halben Minute ließ er ein gedämpftes "Prrüh" erklingen. Dieser Ruf ließ sich schwer orten und war stets so leise, dass man ihn schon aus einer Distanz von vielleicht 15 Metern kaum mehr hören konnte.

Doch die Mornell-Dame konnte auch ganz anders!  

Ein überfliegender und rufender Goldregenpfeifer ließ eine ganz andere Saite in ihr anklingen. Laut, ohne rollendes R und somit ganz klar äußerte sie jetzt einige aneinandergereihte Rufe, die in ihrem Klang jenen des Goldregenpfeifers verblüffend ähnelten. Ich hatte den Eindruck, die Vögel kommunizierten kurz miteinander. Vielleicht verabredeten sie sich schon fürs Brutgebiet in Norwegen oder so.

Bis auf 50 Zentimeter kam der Mornell schließlich auf mich zugelaufen:




the Dotterel came as close as a half meter and even then I could switch the empty batterie of my camera without disturbing him (actually her)

In solchen Situationen musste ich den Rückwärtsgang einschalten und zurückrobben. 

Denn ich mag es nicht, wenn ein Tier auf einem Bild zu groß dargestellt wird. Mehr als ein Drittel des Fotos sollte es niemals einnehmen. Alles, was darüber hinaus geht, bezeichne ich immer gerne als Brachialfotografie.

So einen Blödsinn sollte man vielleicht nur dann machen, wenn einem nichts Anderes mehr einfällt, denn schon Fritz Pölking wusste: "Wenn du es nicht fotografieren kannst, dann mache es wenigstens groß."

Dann lieber so:






















Der Mornell ist ein ausgesprochen hübscher Vogel!

Aber wenn man ehrlich ist, gilt das in gleichem Maße für (fast) alle Limikolen.

Ob Kiebitzregenpfeifer, Alpenstrandläufer oder Uferschnepfe, all diese Vögel sind vor allem im Prachtkleid echte Hingucker. 

Wären sie viel seltener, würden sie uns mindestens so begeistern, wie es jetzt der Mornell zu tun vermag:




for a very long time I had the wish to find such a confiding specimen. I still can't believe, that this dream has come true 

Ich habe schon viele Vögel angefüttert in der Vergangenheit.

Doch (fast) nie zuvor war ich einem so entspannten Zeitgenossen begegnet. Es ist aber natürlich nicht neu, dass der Mornell vor allem durch seine geringe Scheu besticht. Gerade Einzelvögel können Menschen gegenüber sehr vertraut wirken. 

Der längst verstorbene schwedische Tierfotograf und Schriftsteller Bengt Berg hat dem Mornell und dessen Zutraulichkeit gleich ein ganzes Buch gewidmet: Mein Freund, der Regenpfeifer. Dieses Buch wiederum war der Grund dafür, dass sich auch die bekannten Tierfilmer Hans Schweiger und Ernst Arendt auf den Weg nach Lappland gemacht haben, um dort den Mornell vor die Kamera zu bekommen. Ihr Film Die Saga vom Vogel in der Hand hat sogar Nachahmer gefunden: klick!

Ich selbst wollte nicht am Nest knipsen, sondern irgendwo vor meiner Haustür. 

Meine Fresse, ich kann gar nicht schreiben, wie oft ich mir in der Vergangenheit schon eine Begegnung mit einem zahmen Mornell in meinen wirren Gedanken ausgemalt hatte?

Ende der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre hatte ich viele Versuche unternommen, einen Mornell geradezu herbeizuzwingen.  Im Mai und dann auch noch einmal im Spätsommer (Ende August, Anfang September) war ich alljährlich nach Helgoland gefahren, vor allem, um diese Art endlich zu finden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja nur den Vogel bei Dornumersiel gesehen.

Doch obwohl der Mornell in den Jahren zuvor ein verlässlicher Besucher der Insel gewesen war, blieb mir das Glück, ihn dort zu finden, versagt. Überhaupt ließen sich während meiner Aufenthalte keine Mornellregenpfeifer auf Helgoland blicken. Erst nachdem ich aufgegeben hatte und die Insel nicht mehr besuchte, tauchten plötzlich wieder Mornellregenpfeifer in einer gewissen Regelmäßigkeit auf dem roten Felsen und dessen vorgelagertem Sandkasten auf. 

Wie gemein kann das Leben doch sein?

Jetzt endlich ist es an der Zeit, das alles zu vergessen! 

Und ich kann schreiben, dass die Stunden, die ich mit dem Mornell verbracht habe, tatsächlich so unglaublich spannend und aufregend für mich waren, wie ich es mir zuvor so oft vorgestellt hatte. Vielleicht mag es pathetisch klingen, aber der Sonntag, an dem ich den Vogel sozusagen in einem Stück von morgens bis abends beobachten konnte, war ein besonderer Tag für mich. 

Ganz gewiss ein Tag, den ich nie vergessen werde.

Die vielen Bilder, die ich vom Mornell gemacht habe, sollen das bezeugen. 73 davon zeige ich heute in diesem Beitrag.

Ey, was guckst du:

why are you staring at me?

Wie eine flüchtige Fata Morgana war mir noch der Tage zuvor beobachtete Trupp vorgekommen – kaum entdeckt, schon wieder weg –, doch waren es genau diese Vögel, die mich indirekt und mit einer beachtlichen zeitlichen Verzögerung doch noch zum Erfolg geführt haben.

Denn nachdem dieser Trupp allzu schnell verschwunden war, führte ich sicherheitshalber mindestens einmal am Tag eine Gebietskontrolle durch. Ich spekulierte darauf, dass weitere Mornellregenpfeifer auf diesem Acker aufauchen würden. Und ich hoffte auf Leer(an)er Verhältnisse, denn nur zwei Jahre zuvor hatten sich bis über 50 Mornellregenpfeifer auf einem Acker bei Jemgum wochenlang quasi den Staffelstab in die Hand gedrückt. Viele Beobachter nicht nur aus Norddeutschland waren extra wegen dieser Vögel angereist.

Ich nicht, denn ich habe Prinzipien. Und eines dieser Prinzipien besagt, dass ich selber finden muss. 

Der Moment des Entdeckens, also wenn man in einem Augenblick noch nicht weiß, was im nächsten passieren wird, stellt für mich den Kick beim Birden dar. Es bringt mir nichts, mich ins Auto zu setzen und baffzig Kilometer zu fahren, nur um dann einen Vogel zu sehen, von dem ich ja schon weiß, dass er da ist. 

Überraschungen sehen für mich jedenfalls anders aus.

Entsprechend ging ich 2020 leer aus. Umso erstaunlicher war dann die Entdeckung dieses Weibchens. Noch überraschender aber die Tatsache, dass es sich nicht nur für denselben Acker entschieden hatte wie der Trupp acht Tage zuvor, sondern auch gleich für denselben Quadratmeter. Doch warum? Schließlich gibt es hier in Ostfriesland Äcker ohne Ende. Eigentlich gibt es kaum etwas anderes. 

Waren die Bedingungen an diesem Ort also besonders geeignet für den Mornell? 

Und falls ja, warum?

Tatsächlich war es die Nahtstelle zwischen zwei Äckern, die sowohl der Trupp als auch das einzelne Weibchen immer auf und ab rollten:



habitat shot

Auf jeden Fall kommt mir das Ganze auch jetzt noch ganz schön abgefahren vor.

Es folgt mein Lieblingsfoto von diesem tollen Vogel:



my favorite picture of this bird: the eye of the Dotterel

Das Jemgum des Jahres 2022 heißt übrigens Balje.

Die Gemeinde, die sich etwa auf halber Strecke zwischen Cuxhaven und Stade entlang der Unterelbe ausbreitet, stellt das diesjährige Mekka für alle Liebhaber des Mornellregenpfeifers dar. Nachdem dort bereits am 30. April zehn Individuen auf einem Acker entdeckt worden waren, sind in Balje bis heute immer wieder Mornellregenpfeifer gesehen worden. 

Maximal waren es 48 Vögel zusammen.




Interessant ist, dass sich die Funde in diesem Jahr vor allem auf die Nordseeküste konzentrieren.

In den Jahren zuvor hatte es viele Beobachtungen in den Mittelgebirgen tief im Binnenland gegeben. Zum Teil handelt sich hier sogar um über Jahrzehnte alljährlich vom Mornellregenpfeifer aufgesuchte und somit traditionelle Rastgebiete. Betrachtet man in "normalen" Jahren im Mai die Verbreitungskarte des Mornells auf Ornitho, dann sieht man fast immer einen breiten Zugkorridor, der vom Südwesten der Republik nach Nordosten verläuft. Doch wenn ich jetzt richtig geschaut habe, dann hat es während des Heimzugs 2022 abseits der Nordsee nur für Einzelfunde gereicht.

Mir ist das egal.

Denn ausnahmsweise war ich es, der das Glück hatte, gleich mehrere dieser bunten Biester zu entdecken:





"Give me more Mealworms. Now!"

Der Mornell ist in Deutschland zwar ein alljährlicher Gast, allerdings in jahrweise stark schwankender Zahl.

Häufig ist er aber nie. Nicht umsonst hat es sich bei diesem Weibchen erst um meine vierte Begegnung mit diesem Regenpfeifer in Deutschland und überhaupt gehandelt. 



nice posture

Der Mornell ist ein Brutvogel des Nordens.

Das Brutgebiet reicht von Schottland im Westen über Fennoskandien und Sibirien bis nach Alaska im Osten. Darüber hinaus soll es auch heute noch Reliktvorkommen in verschiedenen Gebirgszügen Europas geben, so zum Beispiel in Österreich, Italien und Rumänien. Ob die aber noch aktuell sind, ist mir nicht bekannt. Ohnehin hat es sich hier wohl ausnahmslos um kleine oder Kleinstpopulationen gehandelt, bestehend aus nur wenigen Paaren. 

Die Winterquartiere europäischer Mornellregenpfeifer befinden sich hauptsächlich in Nordafrika und hier wiederum vor allem im Atlasgebirge. Und jetzt fällt mir gerade auf, dass es bezüglich der Brutgebiete und des Winterquartiers Gemeinsamkeiten mit der Ringdrossel gibt.  

Interessant ist die Brutbiologie dieser Art, denn es ist der Kerl, der sich am Ende um den Nachwuchs kümmern muss, während die Frau sich auf andere Art und Weise die Zeit vertreibt. Dieser Rollentausch spiegelt sich auch im Gefieder wider, ist es doch beim Mornell das Weibchen, das besonders prächtig und bunt gefärbt ist, während beim Männchen eher blasse Farben den Ton angeben.

So etwas kann man in Europa sonst nur noch bei den Wassertretern beobachten, also bei Thorshuhn und Odinshuhn. Auch diese beiden Arten meinen, brutbiologiemäßig gegen den Strom schwimmen zu müssen.

Wenn ein Vogel sein Gefieder sträubt, wird er sich im nächsten Augenblick schütteln:

Darauf kann man seine Oma verwetten:

shake it off!

Und weil's so schön war, gleich noch einmal:


Danach geht es wieder auf Nahrungssuche:
























Hier versteckte sich der Vogel etwas stümperhaft hinter einem Kleiklumpen:




Moin:




Was für schöne Farben!


"What do you want?"

Ich liebe den frühen Morgen an klaren Tagen, wenn sich die Sonne noch irgendwo in der Ferne versteckt. Nur dann sieht man solch neutrale Töne, die noch nicht zu Übertreibung neigen, wie sie es etwa zwei Stunden später zu tun pflegen, wenn aus meiner Sicht eigentlich alles vorbei ist. 

Viele Fotografen sehen das aber wahrscheinlich ganz anders.



Und dieses Ende kam dann auch, und die Sonne blinzelte schließlich doch ganz frech übern Horizont. 

Zunächst ging es aber noch einigermaßen:



Und plötzlich warnte irgendwo ein Kiebitz



a Lapwing was warning in da background

Da machte die Mornellregenpfeiferin doch mal einen auf ängstlich und lief sogar ganz flott einige Meter:


just a Marsh Harrier in the air

Doch es war nur eine Rohrweihe, die da in größerem Abstand vorüberflog. 

Als Mornell müsste man sich schon so richtig blöd anstellen, um von der erbeutet zu werden.

Die Sonne ließ sich jetzt nicht mehr ausbremsen und stieg immer weiter empor. Schnell war es also vorbei mit den neutralen Farben und so attraktiven flächigen Lichtreflexen auf den Augen, die einen fotografierten Vogel dreidimensional und somit so lebendig erscheinen lassen. 

Jetzt reichte es nur noch für einen Punkt auf dem Auge:


after sunrise

Noch schlimmer aber sind die hässlichen Schatten, die so ein Fotomodell bei Sonnenschein wirft. 

Unter diesen unsäglichen Bedingungen bleiben einem genau drei Optionen.

Die erste: Man packt die Kamera in den Rucksack.

Die zweite: Man legt sie einfach vor sich auf den Boden:




to avoid ugly shadows I put my camera on the ground after the sun came up

Die Schatten verschwinden, und der Nacken schmerzt nach nur zwei Minuten, weil es so unglaublich anstrengend ist, bei einer so niedrigen Kameraposition durch den Sucher zu schauen.  








Die dritte Alternative besticht durch interessante Resultate:


with front light

Auch hier verschwinden die Schatten, und gleichzeitig kann man wunderschöne Fotos schießen, indem man einfach die Seite wechselt.


preening

So schön Gegenlichtaufnahmen allerdings auch sein können, für meine betagte Kamera und vor allem für ihren Autofokus sind sie eine unlösbare Herausforderung, wie ich in der Vergangenheit schon so oft feststellen musste. 

Es geht hin und her, vor und zurück. Der blöde Autofokus greift einfach nicht. Also muss ich in solchen Situationen auf manuell umschalten, was aber auch nicht zwingend zu besseren Ergebnissen führt, weil ich dem Anschein nach einen Knick in meiner körpereigenen Optik habe.

Eigentlich funktionieren meine Augen nach wie vor einwandfrei, doch bei Gegenlicht grenzt ihr Verhalten anscheinend an Arbeitsverweigerung.

Wie sonst kann es zu so unglaublich vielen unscharfen Bildern kommen, wie ich sie zu Hause auf meinem Bildschirm ansehen musste? Weil ich aber überhaupt so viele Aufnahmen gemacht habe – ich habe zum ersten Mal nach einer Ewigkeit eine ganze 4-Gigabyte-Speicherkarte vollgeknallt –, und auch immer mal wieder fokussiert, ist am Ende doch noch etwas dabei herausgekommen, mit dem ich mich anfreunden kann:



Richtig schön, ja geradezu feurig wurde es aber erst dann, wenn Sonne, Vogel und der Fotograf eine Achse bildeten:




Man hat aber auch die Möglichkeit, die Farbintensität zu variieren, indem man einfach einen halben oder ganzen Meter nach links oder rechts robbt:


one of my favorites

Da sieht dann alles schon wieder ganz anders aus.

Die Sonne lässt einem viel Raum für Kreativität:


Ob man ihn nutzt, bleibt einem aber selbst überlassen.


Andere Fotografen würden unter solchen Bedingungen sicher noch viel mehr herausholen als ich.

Das liegt vor allem daran, dass sie etwas von Bildbearbeitung verstehen. Ich gebe zu, da befinde ich mich auch nach fast dreißig Jahren immer noch im Anfangsstadium meiner persönlichen "Fotokarriere". Einerseits reicht es mir so, wie ich es mache, auf der anderen Seite steht mir meine Trägheit im Weg, mal etwas Neues auszuprobieren.

Und zu viel Zeit sollte die Arbeit am Rechner auch nicht in Anspruch nehmen:


"More Mealworms!"

Mal was Anderes:


on May 20th I found my first Painted Lady this year, six days later than in 2021. In the meantime this vagabond has become abundant at the dike

Am 20. Mai sah ich diesen Distelfalter, der sich am Abend auf einem Weg bei Hamswehrum sonnte und immer mal wieder mit einem vorwitzigen Admiral kabbelte.  

Für mich war es der erste Distelfalter dieses Jahres. Weitere sechs Individuen sollten innerhalb der nächsten zwei Stunden folgen. Inzwischen ist dieser Weltenbummler hier wieder sehr häufig entlang des Deiches zu sehen. 

Im vergangenen Jahr war mir die Erstbeobachtung übrigens sechs Tage früher gelungen.

Am selben Abend befuhr dieser Radfahrer einen Weg, der vom Deich wegführt und mitten durch die geile Agrarsteppe verläuft:


it is unbelievable, but the ditches on both sides of the dirt road harbour tons of Bluethroats, Sedge Warblers, Stonechats, and other species

Ich selbst stand oben auf dem Deich.

Man kann es sich nicht vorstellen, aber die verschilften Gräben auf beiden Seiten dieses Weges sind der Lebensraum für unzählige Blaukehlchen, Schilfrohrsänger, Schwarzkehlchen, Dorngrasmücken, Rohrammern und weitere interessante Arten. 

Ohne sie wäre die Agrarsteppe wohl komplett tot. Leider werden die Böschungen viel zu oft und auch viel zu früh im Jahr gemäht. Ich will lieber gar nicht wissen, wie viele Jungvögel und andere Tiere diesem typisch deutschen Mähwahn zum Opfer fallen.

Ein Löffler mit Beinschmuck:



this Spoonbill deliberately covered his colour rings, when he noticed me and froze in this position, so that I could not read the codes

Als mich der Vogel bemerkte, bemerkte er auch sogleich meine Absicht, seine Ringe abzulesen. 

Auf der Stelle verdeckte er sie mit seinem Schnabel und zischte mir zu: "Fahr einfach weiter! Ich hasse Menschen!

Dieses einzigartige Foto belegt sehr eindrucksvoll, warum Löffler so einen eigentümlichen Schnabel mit sich herumtragen, beziehungsweise welche Funktion dieser tatsächlich hat. Ich bin der Meinung, dass sich die Evolution das sehr fein ausgedacht hat.

Zurück zum Mornell:


"I am still so hungry!"

Am Sonntag-Abend bastelte ich sicherheitshalber noch schnell einen Mornell-Futterplatz:







Dotterel feeder

Ich habe eine kleine Schüssel im Boden versenkt, damit man sie aus der niedrigen Kameraperspektive nicht sehen kann. 

Zwar machen sich die Mehlwürmer flink aus dem Staub, wenn man sie einfach auf den Boden streut, und verschwinden im lockeren Erdreich. Doch das war nicht der Grund für diese Aktion. Der Mornell ortet sie ohnehin sehr geschickt, ohne sie sehen zu können, und buddelt sie rasch mit ein paar Schnabelhieben wieder aus.



same

Tatsächlich habe ich diesen Futterplatz eingerichtet, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass ich erst wieder am späteren Montag-Nachmittag Zeit haben würde, den Mornell zu besuchen. Ich wollte verhindern, dass die Nahrungsquelle versiegt. Gebracht hat es letztendlich nichts, denn als ich am Montag gegen 17:00 Uhr am Tatort ankam, war der Vogel bereits verschwunden. 

Leider.

Ich gehe davon aus, dass er sich noch am Vormittag am Futterplatz aufgehalten hat, denn die vielen Kotspuren sowie die halbleere Schale sind mehr als nur Indizien für diese Annahme. Inzwischen dürfte der Vogel sein nordisches Brutgebiet erreicht haben.

Und sich dort am Kopf kratzen, wenn ihm danach ist:



Flea?

Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, warum in diesem Beitrag mal vom Mornell, dann wieder vom Mornellregenpfeifer die Rede ist.

Die Antwort ist ganz einfach: Beide Namen haben ihre Gültigkeit, und wenn man sie im Wechsel einsetzt, dann vermeidet man Wiederholungen. 



this fourth encounter with a Dotterel in my life has been the most spectacular one. I will never forget the hours, that I have spent with this pretty bird

Was für ein Tag!

Alles ist exakt so gelaufen, wie ich es mir in der Vergangenheit so furchtbar oft vorgestellt hatte, also für den Fall, dass mir ein solcher Vogel eines Tages vor die Füße rollen würde.  

Ich habe meine Chance genutzt und bin glücklich über und wirklich sehr zufrieden mit meiner Ausbeute!

Ich meine, wenn ein Tier so zahm ist wie diese Mornell-Frau, dann hat man alles selbst in der Hand. Und dann kann man nur sich selbst Vorwürfe machen, wenn man kläglich scheitert. Es ist wie in der Pflanzenfotografie. Auch da kann man niemandem den Schwarzen Peter zuschieben, am wenigsten der Pflanze selbst, wenn am Ende nur Schrottbilder herausgekommen sind. 

Merksatz: Das Problem steht in solchen Situationen immer hinter der Kamera.

Die einzige Grund für ein unverschuldetes Scheitern hätte im Falle dieses Mornells nur das Wetter sein können. An einem finsteren Tag, vielleicht noch mit Regen von der Seite, wäre ich natürlich leer ausgegangen. 

Ich hatte einfach viel Glück, dass der Wettergott an diesem denkwürdigen Sonntag offenbar ganz auf meiner Seite war.  





Eurasian Dotterel is a true beauty

Kurz: Es war mal wieder mal ein Riesenspaß!


beside me my vehicle was the only one who witnessed the presence of the rare guest  

Für die Statistik: Neben mir selbst hat es übrigens nur einen weiteren Zeugen für die Anwesenheit des Mornells gegeben. 

Erkennen könnt ihr ihn unscharf im Hintergrund.

Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass es hier nach langer Dürrephase endlich  mal wieder geregnet hat. Innerhalb sehr kurzer Zeit ist da sehr viel Wasser vom Himmel auf das komplett ausgetrocknete Outback gefallen. Ab diesem Moment konnte man den Pflanzen beim Wachsen regelrecht zusehen. Vor allem der Ackerschachtelhalm schoss in Sekundenschnelle in die Höhe. Unter den jetzigen Bedingungen würde mir ein Mornell auf diesem Acker gar nicht mehr auffallen.

Und das war eigentlich schon wieder für heute.

Dann mach's mal gut, du süße Federkugel, die du an nur eineinhalb bis zwei Tagen ganz brav so viele Mehlwürmer aufgegessen hast:


last picture

Irgendwie sieht man es dir auch an!

Zu guter Letzt fällt mir in diesem Augenblick ein, dass ich doch mit dem Lottospiel beginnen würde. Aber nur dann, wenn mir jemand die richtigen Zahlen verklickert.

Vor der nächsten Ziehung!

In diesem Falle wäre es mir mit dem Überraschungseffekt nämlich schietegal.