Dienstag, 20. Dezember 2011

Weihnachtsmarkt - eine bebilderte Kurzgeschichte

Da ich aufgrund meines Umzuges für wenige Tage keinen Internetzugang haben werde, stelle ich mal diese Geschichte rein, passend zur vermeintlich besinnlichen Zeit des Jahres. In meinen Gedanken bin ich bei all den Enten, Gänsen und sonstigen Tieren, denen das Fest der Feste weniger Glück bringen wird...;-) Warum also nicht einfach mal ein paar leckere Käsebrötchen, die man mit einem kühlen Alster vergolden kann?

Kann sich auch nicht sicher sein, nicht auf einem festlich gedeckten Tisch zu enden: dieses Wildkaninchen (an der Knock). Ebenfalls auf der Flucht vor dem Weihnachtsmann, äh Waidmann sind der Reihenfolge entsprechend Europäisches Reh (Collrunger Moor), Feldhase  (Knock) und Fasan (Aurich Brockzetel).


Doch hier nun die Geschichte:

Edgar stand erschüttert auf dem Auricher Weihnachtsmarkt. Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Edgar! Auf einem Weihnachtsmarkt! Das hatte es nie zuvor gegeben. Oder nur ein einziges Mal, seinerzeit in Osnabrück war das gewesen. Noch im vergangenen Jahrhundert und im Schatten des gigantischen Doms, der die Silhouette der Stadt so eindrucksvoll bestimmte.

Er mochte solche Menschenaufläufe unter besinnlicher Beleuchtung und Tannengrün nicht so recht, aber weil er nicht der Spalter vom Dienst sein wollte, hatte er nach längerem Zögern einfach zugesagt, obwohl ihm bestimmt tausend angenehmere Alternativen eingefallen wären. Hartnäckigkeit wurde eben doch manchmal belohnt, und seine Arbeitskollegen, allen voran dieser verrückte, aber durchaus auch sympathische Dirk Draufgang - sie nannten ihn Doppel-D - hatten ihm so lange mit Glühwein und Eierpunsch in den Ohren gelegen, bis ihm kein Ausweg mehr eingefallen war. Und hatte seine Mutter ihm, Edgar, nicht immer eingebläut, der Klügere gebe nach? 

Und er hatte nachgegeben. Leichtfertig, wie er jetzt befand. Doch Edgar wäre nicht Edgar, wenn er die Situation einfach so hinnähme. Ich stehe zwar jetzt hier auf dem Weihnachtsmarkt, dachte er nüchtern, während er an seinem heißen Getränk nippte, aber dafür lass ich einfach die betriebliche Weihnachtsfeier sausen. Schwuppdiwupp, dachte er und grinste. Alles geht einfach nicht, dachte er konsequent weiter, ich kann mich nicht zerteilen. Und schon in einer Woche wieder Alkohol trinken, das geht schon mal gar nicht, da wird mir schon bei dem Gedanken daran speiübel.

Einen plausiblen Grund konnte er auch auf den Tresen knallen, denn er wollte an jenem Freitag  den früheren Feierabend nutzen und mit seiner Freundin nach Oldenburg fahren, zu IKEA, weil seine Freundin noch ein paar Requisiten für ihre neue und geile Wohnung in Emden benötigte. Und am Abend wollte er ein Konzert diverser Alternative Bands im Leeraner Zollhaus besuchen und dort mal so richtig abfeiern, weil er inzwischen die Schnauze voll hatte von dieser ostfriesischen Flachlandkultur, die seiner Meinung nach nur aus dörflichem Bauerntheater und NDR1 bestand.

Okay, dachte er, während er hinter seinem Rücken und von den anderen völlig unbemerkt den widerwärtigen Rest seines Getränks unter den ausladenden Ast einer entführten und getöteten Tanne schüttete, die sich majestätisch und unmittelbar hinter ihm aufbaute, das war jetzt wirklich selbstgerecht und unfair, denn auch hier in Ostfriesland gibt es Menschen, die sich für wirklich Interessantes interessieren, ohne dabei besoffen zu sein. Edgar musste jetzt schmunzeln, weil er seine kruden Gedanken immer wieder lustig fand. Aber auch, weil er wieder einmal als Sieger vom Platz gehen würde, und zwar ohne dass die Kollegen das mitbekämen.

Skeptisch blickte er mit eingezogenem Hals in den grauen Himmel, der sich wie ein schwerer Baldachin über das grelle, aus tausend Lichtern bestehende Szenario wölbte, das den Menschen anscheinend so viel Freude bereitete. Pseudoschwarzwald für emotional Gestörte, dachte Edgar etwas abfällig, um dann der miserablen Witterung noch einen mitzugeben, weil er ohnehin gerade dabei war, gedankliche Seitenhiebe auszuteilen. Nicht schlecht, dachte er also folgerichtig, das triste Wetter hat noch nichts davon mitbekommen, dass der Weihnachtsmann schon wieder vor der Tür steht.

Es war weder warm noch kalt, doch der stürmische Wind, der die zuckerhaltige Luft in den engen Gassen immer wieder spontan gegen frische austauschte, sowie heftige Regenschauer, die im Minutentakt auf das Pflaster prasselten, ließen das Ganze noch grotesker und lächerlicher erscheinen als es ohnehin schon der Fall war. Nur die Dunkelheit, dachte Edgar, deutet hier und jetzt auf die Jahreszeit hin. Wenn es um fünf stockfinster ist, dann haben wir Winter. Aber dann könnte man den Weihnachtsmarkt auch in den Sommer verlegen, nur eben zu späterer Stunde, weil es hier ja kein Jahreszeitenklima gibt.*

Und so dachte er weiter, einfach immer weiter, tauchte geradezu in seine einzigartige und manchmal auch bizarre Gedankenwelt ab. Doch dann kam schon wieder wie aus dem Nichts dieser Draufgang aus der Menschenmasse, die um den Tresen waberte, hervor – sie spuckte ihn geradezu aus, die Menschenmasse –, mit einer neuen Ladung heißer und Ekel erregender Getränke in den Händen, riss Edgar jäh aus seinen Gedanken, die eine viel angenehmere Wärme in seinem Körper verbreiteten als dieser bescheuerte Jagertee, dessen schwerer Duft nach schwerem Rum ihm jetzt schwer in der Nase hing.

Und den er jetzt schlürfen sollte, vor Publikum quasi. Und der Draufgang grinste. Er freute sich diebisch, weil er wusste, dass Edgar eigentlich viel lieber ein Radler oder gar ein Altschuss trinken wollte, aber dem Draufgang war das schlicht egal. Er zeigte sich kaltherzig, war er doch der Meinung, ein Radler sei nicht die klassische Ingredienz eines heimeligen Weihnachtsmarktes im Zentrum dieser Ostfriesischen Halbinsel.

Und so hielten sie alle schon wieder ein volles, sehr heißes Glas in der Hand. Ansgar einen so genannten Eisbrecher, dessen Freundin Trine einen schnöden Glühwein, der Draufgang einen heißen Kakao mit viel Sprit und Edgar eben einen Jagertee. Sie prosteten einander zu und lachten. Viel pusten mussten sie auch, weil diese Weihnachtsgetränke so furchtbar heiß waren, und wenn man dann leichtfertig einatmete, so mit den Lippen unmittelbar am Rand des Glases, dann bekam man sogleich die erste Dröhnung, weil diese Dampfschwaden aus hundertprozentigem Alkohol bestanden.

Edgar wurde schlecht, nur kurz, er konnte sich sofort wieder fangen, aber er wusste, dass er jetzt mal langsam die Reißleine und somit einen Schlussstrich ziehen musste, wenn er unbeschadet aus der Sache herauskommen wollte. Ich muss jetzt mal andere Saiten aufziehen, konsequent sein, dachte er und beobachtete fasziniert die Kollegen, die mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht das Hochprozentige inhalierten. Er fragte sich, wieso die Menschen so etwas tranken, wo es doch dem Anschein nach nicht besser schmeckte als fünfprozentige Salpetersäure, die das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits überschritten hat. Edgar kicherte angesichts dieses Gedankens, und der Draufgang bemerkte das.

„Mensch Edgar! Wieso grinst du eigentlich schon wieder?“

„Nur so, habe mir gerade einen alten Witz erzählt. Die Pointe überrascht mich einfach immer wieder.“

Der Draufgang schüttelte den Kopf, musste aber auch lachen. Edgars Blick blieb unterdessen auf dem regennassen Pflaster hängen, in dem sich die tausend Lichter des Weihnachtsmarktes spiegelten und die plötzlich vor Edgars leicht getrübtem Auge wirr zu flackern begannen. Tausend Lichter, überlegte Edgar eingebungsmäßig, das muss bereits der Vorhof zur Hölle sein. So weit ist es also schon mit mir gekommen. Ihm wurde plötzlich heiß, so unglaublich heiß.



„Und, Opa, wie ging es dann weiter?“ fragte die kleine Christina.

Opa Edgar kratzte sich im Nacken und überlegte kurz, um dann fortzufahren: „Ich bin dann zum Parkplatz, zu meinem Auto, und dann bin ich nach Hause gefahren, obwohl die Polizei allgegenwärtig war. Und ich bin heil angekommen, niemand hat mich kontrolliert. Und glaubt mir, ganz nüchtern kam selbst ich nicht davon.“

„Wann genau war das eigentlich?“ wollte jetzt Larissa wissen, die nebenbei ein Stück Erdbeertorte aß.

„Das ist schon lange her, das war 2009, da war ich zweiundvierzig.“

„Ich kann nicht glauben, dass es diese Weihnachtsmärkte tatsächlich gegeben hat. Wieso hat man sie denn eigentlich abgeschafft? Das muss doch schön gewesen sein. Romantisch.“

„Mit Romantik hatte das wenig zu tun. Eher mit Verwahrlosung. Betrunkene Menschen, so weit das Auge reichte. Es war einfach nur schlimm. In den letzten Jahren mussten sie sogar Security-Leute engagieren, weil sich die Deppen im Suff gegenseitig die Rübe einhauen wollten.“

Gut, dachte Edgar, dass sie diesen blöden Alkohol verboten haben. Und die Zigaretten gleich mit. Und Kaffee und Tee stehen im Moment auch auf der Vorwarnliste. Er musste jetzt an sein Elternhaus denken, an seine Eltern und Geschwister, die immer ausrasteten, wenn mal wieder jemand den letzten Kaffee gekocht hatte, ohne neuen zu kaufen. Entzugserscheinungen der besonderen Art.

Okay, dachte er dann weiter, für die nahende Weltmeisterschaft, die WM 2042 (mit zwei aktuellen Nationalspielern des VfL Osnabrück, des letztjährigen Bundesligadritten, sowie dem Torwart des aktuellen Serienmeisters FC St. Pauli ;-), noch dazu in unserem Land, ist das jetzt nicht so prall, weil wir doch auch den Titel verteidigen müssen und dann natürlich auch entsprechend feiern wollen. Aber inzwischen haben es die Menschen gelernt, ohne Alkohol zu leben. Wenigstens in der Öffentlichkeit. Und sie sind ihn ja auch wohl nicht mehr gewohnt.

Er hob den Blick und stellte fest, dass Larissa und Christina das Wohnzimmer bereits verlassen hatten. Dann stand Edgar mühsam auf, schlurfte gebeugt zum Wohnzimmerschrank, öffnete eine der oberen Türen und holte eine verstaubte Flasche hervor. Und während er den goldenen Calvados im Glas liebevoll bestaunte und sich gleichzeitig eine Gitanes ansteckte, grinste er in sich hinein.

Ende

*) Erst kurz nachdem ich das geschrieben hatte, im Dezember 2009, zeigte der Winter allzu eindrucksvoll, mit welch harter Hand er zu regieren imstande ist. Ich hoffe, dass es in diesem Jahr etwas milder zugeht...:-)

Das Lied zum Thema!

Und ab morgen geht es wieder bergauf: Wintersonnenwende!

Ich wünsche allen eine tolle 100.000-Kalorien-Party!