wilde perspektiven

wilde perspektiven

Samstag, 11. August 2012

Wiegenfest

Es ist unglaublich, aber ein ganzes Jahr ist schon wieder rum und, leider, Weihnachten nicht mehr weit. Das bedeutet aber auch, dass diese aus der Masse der Internetpräsentationen herausragende Seite am Montag ihr einjähriges Bestehen feiern wird!

Statt Kuchen gab es gestern schon mal eine leckere Überraschung:

Also bitte alle einmal aufstehen und laut mitsingen:

Happy Birthday to you,
happy Birthday to you,
happy Birthday, Wilde Perspektiven!
Happy Birthday to you.

So, setzen, denn jetzt gibt es ein paar Statistiken.

Zu Beginn hatte ich mir ein Ziel gesetzt: Ich wollte binnen Jahresfrist das Stadion des VfL Osnabrück, die geile "Bremer Brücke", füllen, und das ist mir fast gelungen, denn mit bis heute knapp 14000 Besuchern (Tendenz steigend) kann ich sehr zufrieden sein. Für eine solche Seite, eine naturkundliche noch dazu, ist das schon beachtlich, vor allem auch deshalb, weil es hier weder Forum, Gästebuch noch für Dritte die Möglichkeit gibt, Bilder hochzuladen. Ich bin hier also so etwas wie der Alex Lukaschenko dieser Seite. Nur ich entscheide, was veröffentlicht wird. Ich entscheide über alles! Und das ist auch gut so ;-)

Die Schaltzentrale (auf dem Teller lag kurz zuvor noch ein knuspriges Käsebrötchen):


Besuch hatte diese Seite aus aller Herren Länder, von den Kapverden und Südafrika über die Vereinigten Staaten und Kolumbien bis nach Australien und Japan ist bislang alles dabei gewesen. Aus Europa fehlen nur noch so exklusive Staaten wie Andorra und Monaco oder auch Malta. Malta aber hat von mir ein Verbot auferlegt bekommen, darf diese Seite nicht besuchen, weil zu viele Menschen dort nicht aufhören wollen, seltene und häufige Zugvögel zu schießen.


Die meisten Besucher kamen aus Deutschland, gefolgt von den USA und Österreich. Der mit Abstand am häufigsten angeklickte Beitrag ist der des ersten South Carolina-Aufenthaltes, gefolgt vom zweiten South Carolina-Bericht sowie von jenem über meine Erlebnisse in der Türkei. 75 Beiträge konnte ich im vergangenen Jahr verfassen, das sind fast eineinhalb pro Woche.

Das am häufigsten eingegebene Suchwort war, wie sollte es auch anders sein, "Wilde Perspektiven", gefolgt von meinem Namen. Die meisten Besucher aber gelangen über die Google-Bildersuche auf diese Seite, wo sie eines meiner zahllosen und herausragenden Fotos finden. Ja, ich habe das weltweite Netz in diesem Jahr mit meinen Bildern richtig zugemüllt - als gäbe es kein Morgen.

Okay, man könnte dieses Spielchen bis ins Unerträgliche fortführen, aber das wäre natürlich völlig sinnfrei ;-)

Und hieraus beziehe ich mein umfangreiches Halbwissen, das quasi das Fundament meiner qualitativ einmalig hochwertigen Beiträge bildet:


Alle Bilder sind heute irgendwie etwas milchig, aber ich habe sie mit einer Knipse gemacht, weil ich für meine Standardkamera kein Weitwinkelobjektiv besitze, was auch künftig so bleiben soll. Da liegt also nicht etwa meterhoch Staub auf meinem Schreibtisch!

Und wenn ich mal nicht am Rechner sitze, um einen Beitrag für das nach Wissen dürstende Volk zu verfassen, dann bin ich meist im ostfriesichen Outback unterwegs, denn irgendwoher muss der ganze Kram ja auch kommen. Dies ist meine erste Wohnung mit einem Balkon, aber ich nutze ihn fast nie, weil mir einfach die Zeit dazu fehlt. Trotzdem konnte ich von dort aus schon so illustre Arten wie Seeadler oder Wanderfalke beobachten:


Man kann deutlich erkennen, dass ich auch einen grünen Daumen habe. Okay, in diesem Sommer musste ich nicht allzu oft gießen, denn das übernahm Petrus in nie gekannter Verlässlichkeit. Man beachte das Kabel, das da aus der Wand ragt...

Ein Auszug aus meiner ersten Geschichte darf hier heute auch nicht fehlen, denn auch sie ist ein Teil von mir. Und weil ich heute in eine Polizeikontrolle geraten bin (sie haben mich wieder einmal angehalten, weil einer meiner Scheinwerfer ausgefallen ist), gibt es nun eine vergleichbare Sequenz aus "Edgar - Soundtrack eines Lebens":

Am Ortseingang von Recke steuerte Edgar auf einen Kreisverkehr zu. Er musste quasi links abbiegen, also wenn man sich den Kreisverkehr wegdenkt, hätte also folglich drei Viertel des Kreisverkehrs umrunden müssen. Zu lang, der Weg, dachte Edgar, und er fuhr im Kreisverkehr links herum, entgegen der Fahrtrichtung. Kein Problem, dachte Edgar, denn jetzt in der Dunkelheit kann man herannahende Autos schon aus großer Entfernung erkennen. Weder Gebäude noch blöde Hügel versperrten ihm hier auf dem platten Land die Sicht, und es war niemand da, stellte er zufrieden fest.

Er hatte die Ausfahrt noch nicht ganz erreicht, als er das am unbeleuchteten Straßenrand geparkte Auto bemerkte, dessen Scheinwerfer jetzt plötzlich Licht in die nasskalte Dunkelheit brachten. Scheiße! Die Polizei. Mein Freund und Helfer, dachte Edgar. Was machen die denn hier um diese Zeit? Was soll ich jetzt machen? Wieso bin ich nicht um kurz vor sechs gefahren, dachte er, wenn diese grünen Prolos Schichtwechsel haben? Ich mache aber auch wirklich alles falsch.

Bitte halten – Polizei – Bitte halten – Polizei...blinkte eine Leuchtschrift auf dem Dach des Polizeiautos, und Edgar sah keine andere Möglichkeit mehr als rechts ranzufahren. Schnell schnallte er sich noch an, weil er wenigstens diese überflüssige Gebühr einsparen wollte, die er in den vergangenen Jahren bereits ein ums andere Mal hatte entrichten müssen. Er steckte einen frischen Zimtkaugummi in den Mund und würgte vor Aufregung den Motor ab. Mehr als zehn Altschuss waren das sicher nicht heute Nacht, dachte Edgar. Ganz bestimmt nicht. Und das über einen Zeitraum von sechs Stunden. Das ist okay, glaube ich. Edgar blickte in den Rückspiegel, das Polizeiauto hielt unmittelbar ihm. Dann passierte erst einmal nichts.

Er nestelte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche hervor und suchte fieberhaft nach dem Führerschein. Es ist komisch, dachte er, ich weiß nicht, wann ich dieses Papier zum letzten Mal gebraucht habe. Geschweige denn überhaupt gesehen. Nebenbei klappte er die Sonnenblende herunter und entnahm einem Schlitz den Fahrzeugschein, den er immer schon hier aufbewahrte. Neben der Parkscheibe. Wo ist dieser blöde Führerschein, überlegte er, während er abermals in den Rückspiegel schaute. Die Bullen saßen immer noch in ihrem Auto und machten keine Anstalten auszusteigen. Nichts. Es passierte nichts. Eigentlich könnte ich wieder losfahren, dachte Edgar. Sie sitzen da in ihrem Auto und lassen mich warten.

Sie beobachten mich, kam Paranoia in Edgar auf. Sie wollen mich nervös machen, dachte er. Sie wollen, dass ich durchdrehe und etwas Unüberlegtes tue, damit sie mich festnehmen können, dachte er. Oder erschießen. Von hinten, weil sie wie alle Bullen link sind und keinen Charakter haben. Sie haben Langeweile. Sie kosten ihre erbärmliche Macht schonungslos aus. Was, bitte schön, habe ich ihnen denn getan? Was bitte?

Die Polizisten stiegen aus und kamen langsam, fast genüsslich auf Edgars Wagen zu. Während der eine an die Scheibe klopfte, begann der andere damit, Edgars Corsa zu untersuchen. Er bückte sich, um einen genauen Blick auf das Kennzeichen werfen zu können. Und auf die Plaketten. Tut mir Leid, dachte Edgar, ich war pünktlich im Mai beim TüV. Ihr könnt mir nichts. Er kurbelte die Scheibe herunter und blickte hinauf zum anderen Polizisten. Edgar versuchte es mit seinem Siegerlächeln, das er so oft schon vor dem heimischen Badezimmerspiegel geübt hatte, aber der Polizist zeigte sich wenig beeindruckt und verlangte mit finsterer Miene die Papiere. Edgar reichte ihm Fahrzeugschein und Personalausweis und begann abermals mit der Suche nach dem Führerschein, und je länger sie andauerte, die Suche, desto unbehaglicher wurde ihm.

»Den Führerschein, bitte.«

Was glaubst du Idiot eigentlich, dachte Edgar, was ich hier suche? Einen Leopardentanga? Edgar gab alles, schaute hektisch in jedes Fach seiner Geldbörse. Nichts.

»Was ist los? Haben Sie vielleicht keinen? Wir haben Ihnen doch extra Zeit gelassen, damit wir hier nicht so lange im Regen stehen müssen.«

Edgar hatte gar nicht mitbekommen, dass es inzwischen wieder zu regnen begonnen hatte. Er suchte weiter, konnte den verdammten Führerschein aber einfach nicht aufstöbern, sodass der Polizist ein wenig die Contenance verlor.

»Steigen Sie doch bitte mal aus.«

Edgar folgte dem Befehl und stieg aus. Der Beamte leuchtete ihm unvermittelt mit einer Taschenlampe direkt in die Augen, sodass Edgar sie reflexartig schloss. Hat dieser Idiot noch alle Tassen im Schrank, dachte Edgar, mir bei Dunkelheit dieses grelle Licht in die Fresse zu halten? Er verspürte Schmerz in den Augen, die nach dieser durchgemachten Nacht bestimmt rot waren wie eine holländische Tulpe. Nachdem der Beamte die Taschenlampe nach einigen Sekunden wieder ausgemacht hatte, öffnete Edgar langsam die Augen, und der Polizist begann sein Verhör:

»Sie haben rote Augen...«

Ach, was. Ehrlich, dachte Edgar. Das ist ja mal was ganz Neues. Das wusste ich ja noch gar nicht. Edgar spürte Wut in sich aufsteigen, weil er diesen Kommentar einfach nicht mehr hören konnte und wollte. Meine Güte, dachte Edgar, ich sage doch auch nicht jedem, dass er dick und doof ist. Edgar musste jetzt an seinen Juniorchef denken. Und dass diese unsäglichen Eigenschaften in meiner Kindheit noch auf zwei Personen verteilt waren. Ich weise doch auch niemanden darauf hin, dass er Neurodermitis hat. Wozu auch? Er wird es längst selber wissen, dachte er. Deswegen hielt Edgar sich jetzt nicht mehr zurück.

»Ja, das ist auch kein Wunder, denn ich habe die ganze Nacht gekokst. Ach ja, und eine große Tüte habe ich auch geraucht. Obwohl, nicht ganz allein. Die Tüte haben wir uns geteilt. Mit mehreren Leuten...«

»Wenn Sie mich weiter auf den Arm nehmen, kann ich auch anders.«
Der Polizist wirkte etwas steif und guckte jetzt böse, und sein Kollege überprüfte unterdessen das Profil der Reifen.

»Nein ehrlich«, setzte Edgar sein spontan ausgedachtes Geständnis unaufgefordert fort. »Wir waren zu dritt, und jetzt muss ich allein die Drecksarbeit machen, während die anderen beiden Spastis längst in der Kiste liegen.«

»Was meinen Sie mit Drecksarbeit. Etwa uns?« Der Polizist hob misstrauisch die linke Braue.
Nicht schlecht, dachte Edgar, diese Asymmetrie. Ich kann nur beide Brauen gleichzeitig. Edgar entfernte mit zwei Fingern den Schleim, der ihm unablässig aus der Nase lief. Dann ergänzte er: »Ja, also, das ist so. Wir haben Streit bekommen mit so ‘nem Türken in Rheine. Direkt vorm Köpi. Kennen Sie den Laden?«

Der Polizist nickte. Allerdings nickt er wie jemand, der sich ein Märchen anhören muss, dachte Edgar. Oder wie ein Therapeut, der seinen armen Klienten nicht ganz ernst nimmt. Oder wie ein Schiedsrichter, der dem Spieler nicht so recht abnehmen will, dass dessen Foul nichts anderes als Notwehr war.  Edgar zeigte sich unbeeindruckt, tat so, als bemerke er den ironischen Augenaufschlag des Beamten überhaupt nicht.

»Und als dieser Spinner ein Messer zog, habe ich ihm mit einem gezielten Fußtritt den Unterkiefer gebrochen. War ne saubere Fraktur und so. Wissen Sie, ich mache so Karate und so. Bin mal Kreismeister gewesen. Vor vielen Jahren. Na ja, ist wie Fahrrad fahren, man verlernt es nicht.«
Und wie Poppen, fügte Edgar in Gedanken hinzu.

»Selbst wenn man viele Jahre nicht die Möglichkeit hatte, es auszuprobieren. Oder einzusetzen. Sie wissen, was ich meine. Ähem, wissen Sie, was ich meine?«

Edgar wartete erst gar keine Antwort ab, gab stattdessen weitere Stand-up-Details preis: »Ja, und als der dann heulend und um Gnade winselnd vor mir auf dem Pflaster lag, habe ich ihm dann noch so lange in die Fresse getreten, bis der sich nicht mehr gerührt hat. War ganz einfach. Habe mir vorgestellt, dass das mein Betriebsleiter ist. War dann echt ganz einfach. Und man findet dann irgendwie auch kein Ende, das wird dann geradezu ekstatisch, verstehen sie, wenn man schon mal dabei ist. Also, ich mache grundsätzlich keine halben Sachen.«

Edgar korrigierte sich in Gedanken, weil er an sein Studium denken musste.

»Das klingt jetzt hart, aber wir konnten dann nur noch seinen Tod feststellen. Um es kurz zu machen: Wir haben ihn dann in meinen Kofferraum gepackt.«

Der Polizist glotzte blöd, und Edgar fuhr abermals ungerührt fort: »Ich bin beruflich interessiert, verstehen Sie? Ich bin Präparator an der Universität Osnabrück. Und einen Türken haben wir da noch nicht in unserer Ausstellung. Also, nicht dass Sie jetzt denken, ich bin Nazi oder so. Die Haare fallen von alleine aus. Im Grunde ist es mir auch egal, ob Türke oder Turkmene, Italiener oder Isländer. Es geht mehr so ums Prinzip und – « 

Edgar überlegte kurz.

»Wissen Sie, ein Briefmarkensammler legt auch immer Wert auf Vollständigkeit seiner Kollektion. Noch Fragen?«

Der Polizist war inzwischen rot angelaufen. Rot vor Zorn. Das konnte man selbst jetzt in der Dunkelheit sehen. Biolumineszenz, dachte Edgar, wobei ihm bisher nicht klar gewesen war, dass auch Menschen dieses irre Licht erzeugen konnten, das aber eigentlich eher grünlich sein sollte. Er musste jetzt an Tiefseefische denken. Der andere Beamte hatte inzwischen die Untersuchung des Autos zu einem Abschluss gebracht und stand jetzt neben seinem Kollegen, kopfschüttelnd, weil er Edgars jüngere Ausführungen wohl noch mitbekommen hatte. Edgar sah etwas aufblitzen und fühlte dann kaltes Metall an seinen Handgelenken. Klick! Er war verhaftet. Es war ihm egal. Sie hatten es nicht anders gewollt. Reiner Vorsatz. Sie hatten ihn ohnehin festnehmen wollen, das war klar, und dann konnte man ihnen ja auch noch eine interessante Geschichte erzählen. So als Grund und so. Edgar war jetzt gespannt, ob sie tatsächlich einen Blick in seinen Kofferraum werfen würden. Er musste lachen angesichts dieses verfluchten Schmierentheaters, zu dem er jetzt nicht ganz unwesentlich beigetragen hatte. Und was für ein Wunder: Die Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen!

Ein Beamter öffnete eine der hinteren Türen des Polizeiautos, und der andere half Edgar beim Einsteigen, indem er ihm die Hand auf den Scheitel drückte. Meine Haare, dachte Edgar nur, passt auf meine Haare auf. Und: ganz großes Kino, wie bei Matula und seinen ehemaligen Kollegen von der Kripo Frankfurt. Klasse. Dann stieg einer zu Edgar auf die Rückbank, während der andere Polizist auf dem Fahrersitz Platz nahm. Der auf dem Fahrersitz warf einen prüfenden Blick auf Edgars Ausweis.

»Edgar Kellermann?«
»Das ist mein Name.«
»Geboren in Osnabrück?«
»Wenn’s da so steht?«

»Jetzt werden Sie mal nicht frech! Merken Sie nicht, dass Sie alles nur noch schlimmer machen? Wir können uns unseren Dienstschluss auch anders vorstellen. Ich meine, wenn Sie da auf diesen Stunt am Kreisverkehr verzichtet hätten, wären Sie jetzt längst zu Hause. Ist Ihnen das eigentlich klar?«

Edgar schaute abwesend aus dem Fenster, wo es aber nichts zu sehen gab, weil es natürlich noch stockfinster war. Was wollen die eigentlich von mir? Halten mich an, weil ich falsch herum in den Kreisverkehr eingebogen bin, dachte er. Um diese Zeit. Ist doch sowieso niemand unterwegs. Es hätte nichts passieren können. Was also soll das jetzt hier?

»Haben Sie vielleicht keinen Führerschein?«

»Wenn Sie mir diese behinderten – äh – ich meine behindernden Handschellen abnehmen, kann ich ja noch einmal danach suchen. Sie müssen mir schon die Zeit dazu geben.«

Der Polizist auf der Rückbank kramte den Schlüssel aus der Brusttasche seiner Jacke hervor und öffnete die Handschellen. Wie im Film, dachte Edgar wieder, wie bei Matula und Dr. Renz. Eigentlich gar nicht so übel, dass ich das mal erleben darf, dachte er. Okay, vielleicht wäre eine andere Tageszeit angemessener gewesen, weil ich jetzt doch lieber schlafen würde. Edgar zog abermals sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, öffnete es und begann mit der Suche. Zwei zusätzliche Augenpaare scannten ihn dabei aufmerksam. Nach wenigen Minuten fand Edgar immerhin seinen alten Führerschein, der eigentlich nicht mehr gültig war. Er überreichte den grauen Lappen mit einem breiten Grinsen an einen der Beamten, um ihn eine Weile zu beschäftigen. So, dachte Edgar, jetzt hat dieser Idiot erst mal was zu tun und kann keine blöden Fragen mehr stellen. Mein alter Lappen wird ihn sprachlos machen, aus dem Konzept bringen. 

Der Beamte musterte das Dokument, das kein richtiges mehr war, aufmerksam und klappte es dann auf. Man konnte sogar ein Geräusch vernehmen, etwa wie ein sich öffnender Klettverschluss, weil das ganze Ding wohl etwas klebte.

»Was ist das hier?« fragte der Polizist misstrauisch.

»Ja, also, wenn Sie das nicht wissen, wer dann? Am Ende sind Sie wohl keine echten Polizisten.«
Edgar rülpste laut.

»Ich hatte es Ihnen doch eben schon gesagt. Es steht Ihnen nicht zu, frech zu werden. Haben wir uns da verstanden?« Edgar nickte willenlos. 

»Und benehmen Sie sich mal. Haben sie keinen Anstand?«, zeigte der Polizist neben ihm Empörung. »Das kann Ihre ohnehin schon beschissene Situation noch weiter verschlimmern, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Anstand, du Idiot, dachte Edgar, ist doch nur ein anderes Wort für Verlogenheit. Aus Anstand grüßt man Leute, die man nicht mag, geht mit Menschen essen, die man eigentlich lieber pfählen würde, und aus Anstand besucht man ein-, vielleicht zweimal im Jahr die Tante, die einem in Kindertagen bei der Betreuung der Schularbeiten immer wieder mit einem Stock auf die Finger geschlagen hat, weil die Handschrift des Neffen, der am Nachmittag eigentlich lieber auf den nahen Bolzplatz gegangen wäre und Freundschaften gepflegt hätte als über den Hausaufgaben zu brüten, ihrer Meinung nach die eines heranwachsenden Psychopathen war, dessen kranke Karriere es im Keim zu ersticken galt. Und aus Anstand, dachte Edgar dann, weil er nicht aufhören wollte zu denken und ihm in seiner jetzigen Situation ohnehin nichts Besseres einfallen wollte, musste ich – er wechselte, ohne es zu merken, in Gedanken zur ersten Person Singular über – mich immer auf den Schoß eben dieser Tante setzen, obwohl sie einen meiner Wellensittiche, den süßen blauen, in meinem Beisein in ein Handtuch eingewickelt und dann in der Spüle im erkalteten Seifenwasser ertränkt hat, nur weil er sich ständig lautstark mit seinem grünen Kollegen im Käfig unterhielt und eben diese Tante sich dann nicht mehr auf die Glotze konzentrieren konnte. Scheißanstand!

Der Beamte auf dem Fahrersitz ließ Edgar in Ruhe ausdenken und warf wieder einen Blick auf den Führerschein.

»Da ist ja überhaupt kein Bild mehr drin. Haben Sie den mal in die Waschmaschine gesteckt?«

Edgar hatte jetzt keine Lust mehr auf Späße, weil diese Deppen es offenbar vorzogen, zum Lachen in den Keller zu gehen. Es folgte also eine einfache und diesmal auch wahre Erklärung:

»Nee, den hat man mir mal geklaut. Also das ganze Portemonnaie hat man mir mal geklaut. So vor zwanzig Jahren. Ich weiß es noch ganz genau, wir hatten ein Fußballspiel in Osterfeine – ging übrigens zu unseren Gunsten aus, 3:0 oder so, habe alle Tore gemacht –, und irgend so ein Sonderschüler muss dann wohl in die Umkleide gegangen sein, um so ein paar Sachen mitzunehmen, die ihm nicht gehörten. Hatte wohl ein etwas entrücktes Verhältnis zum Eigentum anderer. Tja, mein Portemonnaie war halt auch am Start. Waren nur etwa fünf Mark drin, war Student, hatte nicht viel Geld damals.«

Edgar fiel jetzt ein, dass sich bezüglich seiner Finanzen eigentlich bis heute nichts geändert hatte.

»Und wenn dieser Wichser vorher einen Blick hineingeworfen hätte, dann hätte er wohl auf meine Geldbörse verzichtet, dann würde mein Führerschein auch heute noch in altem Glanz erstrahlen. Mit Foto und so. Na ja, jedenfalls hat er es mitgehen lassen und dann im Anschluss wohl frustriert in so ein Regenrückhaltebecken geworfen, wo es dann jemand gefunden hat. Ein Angler oder so. Ich bekam eine Nachricht von Ihren Kollegen aus Damme«, falls Sie hier überhaupt echte Polizisten sind, dachte Edgar, »und konnte dann meine Geldbörse abholen. Sie können sich vorstellen, was das für ein unnötiges Gerenne war für mich. Diese ganzen Scheißpapiere. Alles musste ich neu beantragen...«

»Und wieso haben Sie dann keinen neuen Führerschein?« unterbrach ihn einer der Polizisten, die Augenbrauen in ungeahnte Höhen ziehend.

Edgar hatte, wusste aber nicht, wo. Und so log er: »Weiß nicht, wollte wohl kein unnötiges Geld ausgeben. War ja Student, wissen Sie? Ich meine, ich musste damals jeden Pfennig umdrehen, damit ich mir wenigstens meinen Tabak kaufen konnte. Man muss schließlich Prioritäten setzen.«

»Prioritäten setzen. So, so. Sie wissen bestimmt, dass dieser Lappen nicht gültig ist. Zumindest nicht in diesem Zustand, so ohne Bild. Ist Ihnen das klar?«

»Also, ich war damit mal in Rumänien. Die Bullen dort, also ich meine die Polizisten, haben mich des Öfteren angehalten, und sie mussten immer lachen, wenn sie den Schein aufklappten. Wahrscheinlich haben sie mich überhaupt nur deshalb weitere Male gestoppt, weil sie immer wieder mal einen kurzen Blick draufwerfen wollten. Vor allem, wenn einer der Kollegen neu war und den Führerschein zuvor noch nicht gesehen hatte. Der andere Polizist hat mich dann bestimmt nur angehalten, um seinem Kollegen diesen Lappen zu zeigen, wissen Sie? So sieht ein Führerschein in Deutschland aus, hat er dann bestimmt gesagt. Also so auf rumänisch, verstehen Sie? Es hat ihnen Freude bereitet. Ich habe ihnen Freude bereitet! Denn wann sieht man schon mal einen lachenden Polizisten? Oder gleich zwei? Jedenfalls ließen sie mich in Kombination mit einem Personalausweis immer gewähren. Sie haben mich dann auch immer gegrüßt, wenn ich später an ihnen vorbeigefahren bin. Also, sie haben mich nicht jedesmal angehalten.«

»Wir sind hier aber nicht in Rumänien.«

»Ja, schlimm genug! Aber ehrlich gesagt, ich bin natürlich auch schon hier in Deutschland in die eine oder andere Verkehrskontrolle geraten, und die deutschen Beamten haben auch nie etwas gesagt. Wie gesagt, wenn ich dann meinen Ausweis vorgezeigt habe, waren sie immer sofort zufrieden. Sie sind da jetzt irgendwie anders. Intolerant, würde ich sagen, vieleicht sogar einfach pingelig. Eben deutsch! Ich meine, Sie müssen doch sehen, dass ich einen Führerschein habe, und nur weil da kein Bild drin ist, ist es doch trotzdem nichts anderes als ein Führerschein. Verstehen Sie, was ich meine?«

Edgar musste sich jetzt plötzlich überall kratzen, weil seine Haut am ganzen Körper zu jucken begann. Was ist das jetzt, dachte er, das ist ja fürchterlich. Die Polizisten starrten ihn jetzt an wie einen Vogel, von dem sie wissen, dass er den so genannten H5N1-Virus in sich trägt.

»Stimmt etwas nicht mit Ihnen? Ist Ihnen nicht wohl?«

»Weiß nicht, es juckt plötzlich überall. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Vielleicht ist es die Müdigkeit. Müsste mal langsam in mein Bettchen.«

Die Polizisten schauten einander an. Beide nickten, ohne etwas zu sagen. Sie verstehen einander auch ohne Worte, dachte Edgar. Ein eingespieltes Team. Die Beziehung ist über Jahre gewachsen, dachte er. Vielleicht haben sie sogar was miteinander. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht aber denken sie auch, dass ich irgendeine ansteckende Krankheit habe, weil ich mich hier überall kratzen muss, dachte er.

»Wissen Sie, Herr Kellermann, Sie haben uns zwar nicht ganz ernst genommen und uns eine üble Geschichte aufgetischt, aber eigentlich haben Sie Recht. Der Führerschein ist zwar nicht mehr gültig, aber es ist eben doch ein Führerschein! Lassen sie uns noch einen kurzen Blick in Ihren Kofferraum werfen, dann können Sie ihre Heimfahrt antreten.«

Der andere Beamte warf einen Blick auf seine Armbanduhr, wedelte mit dem Zeigefinger, schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Also gut, mein Kollege meint, dass wir Sie auch so fahren lassen können. Nehmen Sie die Polizei und auch die StVO künftig ernst, dann passiert Ihnen so etwas auch nicht wieder. Hier haben Sie Ihre Papiere.« Er reichte Edgar Personalausweis, Fahrzeugschein und den alten Führerschein.

»Oder besser das, was Sie Papiere nennen. Kümmern Sie sich um einen neuen Führerschein, denn sonst werden Sie immer wieder Probleme bekommen. Fahren Sie vorsichtig und entspannt, denken Sie an die alte Opel-Werbung, dann erreichen Sie heil ihr Ziel. Und bis Bramsche ist es ja auch nicht mehr die Welt.«

Der Juckreiz ließ jetzt etwas nach. Edgar wusste nicht so recht, was die Ursache war für diese Kehrtwende. Also warum ihn die Polizisten plötzlich laufen ließen. War es sein Juckanfall gewesen? Hatten sie tatsächlich Angst vor ihm bekommen, Angst, sich irgendeine Krankheit einzufangen? Eher nicht. Wahrscheinlich wollten sie nur den Schichtwechsel nicht verpassen. Dann fiel Edgar aber ein, dass man einen Schichtwechsel nicht verpassen kann, zumindest dann nicht, wenn man an ihm beteiligt ist, weil er ja trotzdem stattfinden würde. Nur eben später, dachte er. Sie sind müde, dachte Edgar, sie sind genauso fertig wie ich. Edgar wollte jetzt nicht lange überlegen. Er nutzte die sich ihm plötzlich bietende Chance, verabschiedete sich gespielt höflich von den Beamten, stieg aus und schlenderte zu seinem Auto hinüber. Richtig eilig hatte er es jetzt  nicht mehr. Er setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Dann fuhr er los. Vielleicht aber ist das Ganze nur ein linkes Spiel, überlegte Edgar, und sie jagen mir jetzt von hinten ein bis zwei Kugeln in die Glocke. Fluchtversuch und so. Man hat das ja schon ein ums andere Mal in der Glotze gesehen, in Western und auch in irgendwelchen Krimis, dachte Edgar. Ein beliebtes Stilmittel. Edgar wollte aber kein konkreter Film einfallen, sodass er diesen Gedanken wieder verwarf. Auch, weil er ihm jetzt eher unrealistisch vorkam. Und sie haben doch tatsächlich nicht in meinen Kofferraum geschaut. Unglaublich, dachte Edgar, das muss man sich mal vorstellen. Nur mal angenommen, dachte er, ein ehrlicher Mörder teilt der Polizei die Wahrheit mit, und die nimmt ihn dann nicht ernst. Sicher würde man die Polizisten dann später, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen ist, vom Dienst suspendieren. Nur vorübergehend, dachte Edgar, denn dieses Pack hält sowieso immer zusammen. Sie hacken sich nicht gegenseitig die Augen aus, sie sind eins. Ein großer Klumpen, früher grün und jetzt langsam blau werdend!

Gegen sieben erreichte Edgar seine Wohnung. Das sonntägliche Anzeigenblatt ließ er achtlos auf dem Hof liegen. Edgar schloss die Tür auf, schleppte sich mit allerletzter Kraft die steile Treppe hoch und knallte den Schlüsselbund lautstark auf die lackierte Oberfläche der Kommode im Flur. Er verlor keine weitere Zeit, putzte sich rasch die Zähne, zog sich aus und legte sich ins Bett. Ohne noch lange zu grübeln, fiel er in einen tiefen und erholsamen Schlaf.



An dieser Stelle findet die Selbstbeweihräucherung ihr Ende. Hoch die Tassen!