wilde perspektiven

wilde perspektiven

Samstag, 13. April 2013

Ab in den Westen

Kinners, es ist wieder so weit; ICH BIN RAUS! Heute bringt mich mein Corsa hoffentlich unversehrt nach Düsseldorf, wo ich in einen Flieger steigen werde, der wiederum Portugals Südküste ansteuern wird. Uuuuahhh, ich bin so aufgeregt!

Für jene Menschen, die zu Hause bleiben müssen, habe ich mal eine Sequenz aus einer meiner Geschichten kopiert und hier reingestellt. Sie zeigt, was man so alles im Urlaub erleben kann, wenn man sich Mühe gibt. Damals, im Jahr 1995 oder 1996, sind wir in Rumänien  verhaftet worden. In echt jetzt! Wie es dazu kommen konnte?

Die Antwort gibt's hier:

Edgar war klar, dass er bald sterben würde. Jedenfalls wenn er weiter so viel rauchte. Trotzdem drehte er sich eine Zigarette und steckte sie sich an. Inzwischen, es war der 10. Mai, waren neue Beobachter aus Deutschland und Siebenbürgen eingetroffen, die das angestrebte Projekt wieder auf Hochtouren bringen sollten. Es war später Nachmittag und sie saßen zusammen auf den Steinplatten vor ihrem weiß getünchten Domizil im Freien, im Schatten eines blühenden Apfelbaums, in den sich in der Vergangenheit in Ermangelung weiterer Bäume immer wieder der eine oder andere wunderbare Vogel verirrt hatte, Schwarzstirnwürger und Blauracke und so weiter, während der Saft des Lebens stetig aus den austreibenden Weinreben tropfte, die eine Pergola an der Hauswand erklommen.

Das Wetter konnte besser nicht sein, denn seit dem Vortag hatten sie nicht eine einzige Wolke am königsblauen Himmel gesehen. Jetzt saßen sie also draußen bei einem guten Essen. Es gab Eintopf, blitzschnell kreiert aus allerlei Resten, die sie in der Eile zusammengesucht und um einige Wildkräuter aus der näheren Umgebung ergänzt hatten. Edgar nahm das letzte Weißbrot von der Fensterbank, brach es und reichte jedem seiner zwölf Mitstreiter jeweils ein kleines Stück, sodass am Ende zu seiner eigenen Überraschung ein vergleichsweise großes übrig blieb, das natürlich für ihn selbst bestimmt war. Und nachdem sie schweigend aufgegessen hatten, ließen sie den ersten Teil des Tages Revue passieren. Sie hatten seit den frühen Morgenstunden das gesamte Gebiet, das vom Grindul Chituc im Süden bis zum Grindul Lupilor im Norden reichte, abgedeckt und die darin rastenden Vögel erfasst. Und jetzt war quasi die Büroarbeit dran. Jeder nannte nacheinander seine Feststellungen, die er zuvor während seines morgendlichen Beobachtungsganges in einer Kladde schriftlich fixiert hatte, und Edgar trug die Resultate in vorgefertigte Listen ein.


»Attila, please give me the head!«

Attila gab Edgar den Kopf. Die rauchende Fraktion hatte es sich zur makabren Angewohnheit gemacht, in antike Schädeldecken zu aschen, die sie in den Ruinen gefunden hatten. Ob die auch wirklich so alt waren wie das Gemäuer, wollte Edgar nicht so recht glauben, aber es war ihm auch egal. Auf diese Weise jedenfalls konnte man diese längst Verstorbenen quasi posthum in die Gesellschaft reintegrieren und ihnen eine sinnvolle Aufgabe zuteil werden lassen. Dann müssen sie nicht mehr einfach nur so in der prallen Sonne rumliegen, so ohne Lichtschutzfaktor, dachte Edgar. Wir sind gute Menschen, und wir haben sogar ein Herz für diese Verblichenen. Das, da war er sich sicher, war nicht selbstverständlich.

Nach erledigter Arbeit legte Edgar den Ordner auf eines der Betten, weil sonst nirgends Platz war, drückte seine x-te Zigarette aus und machte einen Vorschlag, wie man den Tag ausklingen lassen konnte.


»Ich war vor ein paar Tagen im Wald von Babadag und hab da an so einer lehmigen Steilwand Bienenfresser fotografiert. War ganz einfach mit Tarnzelt. Na ja, ihr wisst ja, dass ich ziemlich geile Fotos mach. Wie wär’s, wenn wir heute dorthin fahren, um nach Eulen und Ziegenmelker zu lauschen?«

Edgar hatte es auf eine ganz bestimmte Art abgesehen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Auch im Vorjahr nicht. Die Zwergohreule! Alle zeigten sich begeistert von der Idee, und so brachen sie zwei Stunden vor Sonnenuntergang auf. Und weil nicht alle in den Bulli passten, sie waren inzwischen dreizehn Personen, musste ein Teil im Abteil zweiter Klasse Platz nehmen: auf der Pritsche! Es war unglaublich, aber selbst die Polizisten am Straßenrand ließen sie gewähren, winkten ihnen sogar fröhlich zu, weil sie es wohl noch schlimmer gewohnt waren und eine rumänische StVO anscheinend nicht existierte. Dann, kurz hinter dem Ortsausgang von Baia erinnerte sich Edgar an seine Nacht, die er vor einer guten Woche hier im Bulli hatte verbringen müssen.

Er war recht schnell eingeschlafen, nachdem es dunkel geworden war. Nach einer Weile aber war er wieder aufgewacht, weil die Rückbank nicht seiner Körperlänge entsprach und er sich nicht ausstrecken konnte. Der Rücken! Wenigstens hatte er eine Decke dabei, die immer, für alle Fälle sozusagen, zusammengelegt auf der Rückbank des Bullis ihr trauriges Dasein fristete und auf ihren Einsatz wartete. Mitten in der Nacht, so kam es Edgar zumindest vor, klopfte jemand an das Außenblech des Autos und riss Edgar unsanft aus dem Schlaf. Etwas steif und benommen kurbelte Edgar das Seitenfenster herunter und gab dem Jungen, der einen Benzinkanister in der Hand hielt, zu verstehen, dass er keinen Sprit benötige. Dass das Auto aus anderen Gründen stehen geblieben sei und er, der Junge, ihm leider nicht aus der Misere helfen könne. Trotzdem, so dachte Edgar, denn er war schon immer ein guter Mensch gewesen, eine liebe Geste. Er gab dem Jungen dann eine Doppelkeksrolle, wofür dieser sich mit einem strahlenden Lächeln bedankte. Doppelkeksrollen hatten sie in großen Mengen bereits aus Deutschland mitgebracht, weil irgendwer, Edgar war es nicht gewesen, sich nicht sicher gewesen war, ob es in Rumänien etwas Anständiges zu essen geben würde.

Dann warf Edgar einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und musste zu seiner Ernüchterung feststellen, dass es erst 23.10 Uhr war. Er machte dann einen Spaziergang, in der Hoffnung, danach besser schlafen zu können, was auch klappte. Doch um drei in der Nacht lief ihm sein Gedärm über, obwohl Edgar eigentlich nur hatte furzen wollen. So im Schlaf. Er ging nach draußen und in die Hocke, setzte einen Strahl ganz übel riechender Flüssigkeit auf den Asphalt, weil er nicht weiter gekommen war, und kletterte dann unter großem Bauchweh zurück ins Auto. Am nächsten Morgen wachte er nach unruhigem Schlaf zeitig auf und begab sich zu Fuß auf den Weg zur nahen Werkstatt in Baia, um seine Möglichkeiten auszuloten. Mit einem Abschleppwagen holten die Mechaniker den Bulli und innerhalb einer guten Stunde reparierten sie dessen Motor. Edgar sollte nie erfahren, was nun die Ursache gewesen war für seine Havarie, doch es war ihm egal. Erst in der Werkstatt fiel Edgar dann auf, dass ihm jemand im Schutze der Dunkelheit beide Außenspiegel abmontiert hatte. Nicht schlecht, dachte er jetzt. Das ringt mir ehrlich Respekt ab! Die Rumänen haben es einfach drauf!


»Edgar, du hättest da hinten links abbiegen müssen, glaube ich.«


Edgar überlegte und stellte fest, dass Hermann Recht hatte, was ihm wiederum überhaupt nicht recht war. Etwas verkniffen, seine Oberlippe zuckte unkontrolliert, wendete er das Fahrzeug und bog dann nach rechts in die richtige Straße ein, die sich in großen Bögen einen sanften, bewaldeten Hügel hinaufschwang. Das war Edgar jetzt ein wenig peinlich, weil er selbst doch schon vor drei Tagen an diesem Ort gewesen war, während die anderen ihn nur von der Karte kannten. Das passiert halt, wenn man mit seinen Gedanken ganz woanders ist, dachte Edgar und schalt sich einen Träumer.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie die Lichtung mitten im Wald von Babadag. Sie stiegen aus beziehungsweise von der Pritsche herunter, um sich dann in zwei Gruppen aufzuteilen. Während die rumänisch-ungarische Fraktion beabsichtigte, einen entfernten Steinbruch aufzusuchen, um dort nach dem Uhu zu lauschen, liefen die Deutschen gleich hier an der Straße einen steilen Abhang hinauf, wo sie sich niederhockten und auf den richtigen Zeitpunkt warteten. Um sie herum, auf dem verkarsteten Boden, blühten zahlreiche Individuen einer in Nordwestdeutschland sehr seltenen Orchideenart: Purpurknabenkraut. Dann, die Sonne hatte sich für die nächsten Stunden hinterm Horizont verabschiedet, um auch mal die andere Seite des Erdballs zu beleuchten, war dieser Zeitpunkt endlich gekommen, und Edgar, der ungefähr so gut zu pfeifen vermochte wie Ilse Werner, begann mit seinem Vortrag: Tüt...tüt...tüt...tüt...

Nichts. Vielleicht gibt es hier keine Eulen, dachte Edgar.
Tüt...tüt...tüt...tüt...

Wieder nichts. Es war deprimierend. Diese bescheuerten Vögel, die sich nur bei Dunkelheit in die Öffentlichkeit trauten, begannen Edgar zu nerven, obwohl sie nicht einmal da waren. Oder gerade, weil sie nicht da waren. Tüt...tüt...tüüüüÜT...

»Edgar, ich glaube, du musst eine Oktave tiefer pfeifen – «
»Halt dein Maul, du Arschloch!«

Hermann ging Edgar mit seiner Klugscheißerei jetzt richtig auf den Zwirn. Woher, so dachte Edgar, will dieser Idiot denn eigentlich wissen, wie eine Zwergohreule ruft? Der hat doch überhaupt keine Ahnung von der Materie. Überhaupt ging Hermann ihm schon seit Tagen auf den Sack mit seiner weinerlichen Art. Kaufte immer die teure Cola, statt wie alle anderen das köstliche, weil ursprüngliche und vor allem landestypische und kostenlose Brunnenwasser zu trinken. Man muss sich einfach auch mal trauen, dachte Edgar, und sich ganz unvoreingenommen in eine fremde Kultur stürzen können. Und dazu gehören nun einmal auch die kulinarischen Kostbarkeiten, dachte Edgar. Aber wahrscheinlich mochte Hermann einfach keine Kolibakterien, und Edgar musste jetzt an seinen flotten Darm denken, sagte aber nichts. Und bestimmt glaubte Hermann, er sei autark, obwohl die Scheißcola, das wusste Edgar ganz genau, aus der Gemeinschaftskasse bezahlt wurde. Dann fiel Edgar aber ein, dass auch die Zigaretten aus dieser Gemeinschaftskasse finanziert wurden, und er schwieg. Trotzdem, so fügte Edgar in Gedanken mit einem Schmunzeln hinzu, wenn ich mit diesem Idioten fertig bin, pfeift der zwei Oktaven höher!

Dann plötzlich ertönte ein Geräusch, das sich aber nicht so recht wie eine balzende Zwergohreule anhören wollte. Auf der durch den Wald führenden Straße, die sich jetzt unterhalb von ihnen befand, erschien in der Dunkelheit der Schattenriss eines kleinen, kompakten Autos, das in gefühlter Überschallgeschwindigkeit den Hügel hinaufraste, mit einem wirr blinkenden Blaulicht auf dem Dach. Das Geräusch war das Martinshorn. Das Auto, das sie spontan an eine groteske, übergroße Variante des Fürther Spielwarenherstellers Playmobil erinnerte, hielt neben dem Bulli, und sogleich kamen drei Polizisten herausgepoltert, um den Bulli zu umstellen. Als sie bemerkten, dass sich niemand in dem Auto befand und auch nicht darauf oder darunter, blickten sie sich nervös um und kamen, nachdem sie die auf dem Boden kauernden, sich etwas verzweifelt tarnenden Vogelgucker entdeckt hatten, den Abhang hinaufgestürmt. Um es kurz zu machen: Edgar und seine deutschen Kumpels wurden verhaftet, während die ahnungslosen Mitstreiter aus Siebenbürgen in ihrem Steinbruch auf den Uhu warteten.

Einer der Beamten stieg in den Bulli, weil sie nicht alle in das lächerliche Plastikauto passten und die Polizisten das deutsche Fahrzeug samt Personal wohl nicht unbeaufsichtigt lassen wollten. Mit beiden Wagen, ein Teil hatte wieder auf der Ladefläche Platz genommen, fuhren sie zusammen ins nahe Slava Rusă, wo sie eine heruntergekommene Spelunke enterten. Die Beamten gaben ihnen eine Cola aus, immerhin, ohne ihnen jedoch den Grund der Verhaftung zu nennen, geschweige denn überhaupt zu erwähnen, dass es sich hier um eine Verhaftung handelte. Nach einer Weile in dieser Kneipe, Edgar hatte mit Herald eine Partie Billard gespielt, brachen sie erneut in den Wald auf, steuerten einen unebenen Forstweg an und standen plötzlich vor einem Metalltor, an dem ein großes Schild prangte: Zonâ militară! Trecerea oprită!

Jetzt wurde Edgar einiges klar! Die besoffenen Polizisten waren in Wirklichkeit Militärs, die vor lauter Langeweile ganz offensichtlich nicht wussten, wie sie die Nacht rumkriegen sollten. Jemand öffnete das Tor, nahm so eine lächerlich devote Grundstellung ein, wie Edgar sie von der Bundeswehr kannte, salutierte und ließ beide PKW passieren. Vor einer kleinen Holzbaracke, die etwas versteckt hinter dichtem Gebüsch innerhalb des eingezäunten Geländes stand, hielten sie an. In aller Ruhe stiegen sie aus und warteten auf weitere Instruktionen.


Im Hintergrund rief jetzt eine Zwergohreule!


Jemand schloss nach einer Weile von innen die Eingangstür der Baracke auf, sodass sie hineingehen konnten. Im Grunde waren jetzt alle freundlich, bemerkte Edgar, doch was war jetzt eigentlich der Grund für dieses miese Theaterstück?

Man wies ihnen den Weg durch einen grell beleuchteten Flur zu einer wuchtigen Metalltür, hinter der sich ein Raum, ein Büro befand, das hässlicher nicht sein konnte. Die Tapeten vom Rauchen billiger Zigaretten vergilbt, die Stühle aus der Steinzeit, der Teppich von Kinderhand geknüpft, der pompöse Ostblockschreibtisch von Hirnkranken geschreinert. Hinter diesem Schreibtisch saß ein älterer Mann mit schütterem, silbergrauem Haar, der sie nun freundlich aufforderte, Platz zu nehmen. Er trug eine Militäruniform, die behängt war mit zahlreichen Orden, die jedem Kaugummiautomaten, wie sie in Deutschland vor jedem Supermarkt hingen, gut zu Gesicht gestanden hätten. Ostblock, dachte Edgar, sowas gibt’s nur noch im Ostblock. Hauptsache Orden! Das ist ja hier wie auf dem biedersten Schützenfest in der norddeutschen Provinz, dachte er. Die haben doch alle einen an der Klatsche.

Während der Oberst, als solcher stellte er sich vor, seinen Monolog begann, entdeckte Edgar an der Wand eine scharf umrissene rechteckige Fläche, die deutlich heller war als die Tapeten darum herum. Ein Bild, so erkannte Edgar rasch, musste hier mal gehangen haben. Wahrscheinlich Nicolae Ceausescu, das Diktatorenarschloch. Sie hatten es wohl nach dessen Exekution entfernt und wenigstens nicht durch Adolf Hitler ersetzt. Das war doch auch schon was.

Der Oberst hatte nun das fragwürdige Vergnügen, den Grund der Festnahme kundzutun. Er tat es in fast einwandfreiem Französisch und wählte jedes Wort mit Bedacht. Dabei schaute er die ganze Zeit ausschließlich Edgar tief und ohne die Miene zu verziehen in die Augen. Er habe die glaubhafte Information erhalten, er, Edgar, habe vor drei Tagen Teile des Militärbereiches fotografiert. Trotz des Verbotes, das Schilder, die überall an den Zäunen hingen, unmissverständlich offenbarten. Er habe ein Haus, er wählte tatsächlich dieses Wort – maison – errichtet, um sich den Blicken Dritter zu entziehen und dann nach Erledigung seiner Spionagetätigkeit schleunigst das Weite gesucht. Alle starrten jetzt Edgar an, obwohl bis auf Helge und Edgar niemand im Raum Französisch verstehen konnte. Die Tatsache, dass der Oberst die ganze Zeit mit Edgar gesprochen hatte, war für alle jetzt Grund genug, ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. Doch Edgar war sich keiner Schuld bewusst, konnte nicht einmal erahnen, was der Oberst mit seinen schwerwiegenden Anschuldigungen überhaupt meinte. Wenn der das richtige Wort für Zelt – tente – gewählt hätte, wäre Edgar wahrscheinlich viel früher ein Licht aufgegangen, doch so sah er sich einer falschen Bezichtigung ausgesetzt und drohte auszurasten.

Eine Schwäche Edgars, das war sogar ihm selbst klar. Immerzu musste er ausrasten. Sein Temperament war dann einfach nicht mehr zu drosseln. Oft sogar wegen irgendwelcher Banalitäten, die niemanden sonst aus der Ruhe bringen konnten. Vielleicht hatte er eine sizilianische Urgroßmutter, von der er nichts wusste. Spionage, das war ihm klar, war in keinem Land der Welt ein Kinderspiel. Auch wenn es längst nichts mehr auszukundschaften gab, Militärs reagierten schon äußerst empfindlich, wenn irgendwer das Wort nur in den Mund nahm. Krank, dachte Edgar, sie sind krank. Er musste spontan an Jäger denken, die seiner Meinung nach auch nicht mehr alle auf dem Zaun hatten. Bei ihnen war es nicht das Wort Spionage, das sie dünnhäutig reagieren ließ, sondern die stetige Bedrohung durch vermeintliche Wilddiebe, die es wenigstens in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Schließlich konnte man Wild bereits im Supermarkt um die Ecke erstehen, zu einem angemessenen Preis und sauber filetiert. Niemand musste sich noch selbst die Hände schmutzig machen. Zu viele schlechte Heimatfilme, die zu oft die beste Sendezeit in der Glotze blockieren, dachte Edgar. Einbildung, alles Einbildung. Es ist ja ganz nett, wenn man Fantasie besitzt, aber deswegen sollte man doch nicht gleich einem gesunden Realismus abschwören, dachte er weiter. Die katholische Kirche und ihre Hirten sind auch nicht mehr ganz astrein, leitete Edgar nun das vorläufige Ende seines gedanklichen Rundumschlags ein. Die vermeintlich ständige Bedrohung durch den Antichrist hat ihnen einen wesentlichen Teil des Hirns wegfaulen lassen, sodass sie sich außer Stande sehen, wie normale Menschen zu argumentieren. Stattdessen ficken sie Kinder, weil sie irgendwann nicht mehr mit ihren perversen Fantasien zufrieden sind.

Edgar stürzte in eine tiefe Krise und war Bruchteile einer Sekunde davor, dem Nächstbesten an die Gurgel zu gehen. Am besten einem dieser Ordensträger, aber wahrscheinlich waren die alle bewaffnet. Und als Edgar bemerkte, dass auch seine Mitstreiter eine Erklärung von ihm erwarteten, die er nicht zu liefern imstande war, wurde ihm schwarz vor den Augen, und es schwanden ihm die Sinne.

* * *

Edgar tätschelte der jungen Hornotter den schuppigen, hübsch gezeichneten Rücken. Mit einem kurzen Zweig, den er von einer krüppeligen Steineiche abgebrochen hatte. Die Schlange war nicht an Edgars Spielchen interessiert und verschwand, noch bevor er seine Kamera holen und ein paar Fotos von ihr machen konnte, in einem Mauseloch. Ich liebe Schlangen, dachte Edgar, sie sind immer so motiviert. Geben alles. Sie wollen, dass man nicht unglücklich ist. Und sie sind attraktiv, dachte er, fühlen sich ausgezeichnet an. Die meisten jedenfalls. Und Ottern haben so schöne Fangzähne, aus denen manchmal etwas Gift hervortritt. Es spritzt auch fast gar nicht, weil die Viskosität zu hoch ist. Wie Honig etwa, den man vor zwei Stunden aus dem Kühlschrank geholt hat. Nur nicht so süß.

Die Familie, die da in einiger Entfernung ein zünftiges Picknick veranstaltet, sieht sympathisch aus, dachte Edgar. Er überlegte, ob er zu ihr gehen und sich dazusetzen solle. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn auch so sympathisch finden würde, denn er hatte Löcher in der Hose und auch im T-Shirt. Die blonden Haare, die er mangels Gelegenheit mehrere Tage nicht mehr gewaschen hatte, standen wohl etwas wirr auf dem Scheitel, und die eigentlich braunen Schuhe waren grau vom Steppenstaub. Edgar schaute prüfend an sich herunter, gab sich dann einen Ruck und schlenderte betont locker, die Hände in den Taschen vergraben, in ihre Richtung, nachdem ihm der Familienvater mehrfach auffordernd zugewunken hatte.

Ein Ehepaar, etwa in Edgars Alter, sowie drei süße Kinder. Edgar verabscheute Kinder eigentlich, weil sie immer schreien, wenn es keinen ersichtlichen Grund dazu gibt. Außerdem wollen sie immerzu Süßigkeiten essen, obwohl diese Karies und einen unstillbaren Durst verursachen. Sie wollen nur mit Spielzeug spielen, das sie nicht haben, und sie haben einen IQ, der dem eines Teichmolchs gleicht. Trotzdem waren diese drei Prachtexemplare, die Edgar jetzt aus riesigen dunklen Augen anglotzten, irgendwie niedlich. Sie sagten auch nichts, und sie furzten nicht. Die Frau deutete Edgar, der offenbar immer noch einen unentschlossenen Eindruck erweckte, einen freien Platz auf der wollenen Decke und bot ihm Weißbrot mit diversen Auflagen an. Weißbrot, dachte Edgar, das ist nicht schlecht, denn er hatte Hunger. Was gibt’s zu trinken? Oh, Wasser! Aus dem Brunnen? Das passt, das gefällt mir.

Sie kamen ins Gespräch. Sie unterhielten sich auf Französisch, das Edgar einst auf dem Gymnasium erlernt und in Südfrankreich, in der Crau, wo er seinerzeit seinen ersten Triel gesehen hatte, in der Camargue, aber auch im Norden des Landes, in der Bretagne und der Normandie, sowie im kanadischen Quebec ausprobiert hatte. Falsch, Quebec war später. Sie kamen voran. Sie entdeckten einander, fanden vieles heraus. Oh, Sie sind Apothekerin? In Constanza? Das ist nicht schlecht. Ich habe nämlich mein Asthmaspray verloren und ohne kann ich nur halb so viel rauchen. Was ich mache, wenn ich nicht dieses wunderschöne Land bereise? Och, das ist jetzt nicht so wichtig, das hat keine Bedeutung. Wissen Sie eigentlich, dass es hier, genau hier, wo Sie auf ihrer Decke sitzen, Hornottern gibt? Das wissen Sie nicht? Nicht schlecht. Ja also, das ist aber so. Sie sind überall. Und sie können beißen, sind auch giftig. Eigentlich stechen sie, mit ihren spitzen Zähnen. Man stirbt nicht daran, aber die Leber leidet darunter. Etwas mehr als nach einem Glas Altschuss. Vor allem, wenn man häufiger gestochen wird. Na ja, ist nicht wirklich schlimm, denn heutzutage kann man ja schon eine Leber transplantieren, ohne dass der Patient gleich stirbt. Okay, der Spender sollte schon tot sein. Ist aber auch nicht zwingend erforderlich, denn wenn man ihm die Leber rausnimmt, kann er immer noch sterben. Ja, also, ich komme aus Deutschland, aus der Nähe von Bremen, meinetwegen auch Hamburg, wenn Ihnen Bremen nicht bekannt sein sollte. Ist alles dieselbe Kacke. Den Namen der Stadt, in der ich wohne, haben Sie bestimmt noch nie gehört. Das wird mir jetzt auch zu indiskret, wissen Sie?

Edgar! Ich heiße Edgar. Ein schöner Name, finden Sie nicht? Und selbst in Deutschland nicht häufig. Nicht so häufig jedenfalls wie Johannes. Oder Wolfgang.

Edgar bemerkte die Hornotter nicht, die sich ihm näherte. Er saß auf der Decke und stützte sich mit seinen Händen auf dem Boden ab. während eine Bremse im Blutrausch sein Gesicht umschwirrte und sich einfach nicht wegpusten lassen wollte. Ganz schön hartnäckig, das Biest, dachte Edgar. Und in dem Moment, als er die Hand anheben und ihr kräftig einen mitgeben wollte, spürte er etwas Stechendes. Dann schwanden ihm die Sinne.


Edgar, was ist passiert? Edgar, bitte sag doch was! Edgar! Edgar! Edgaaaaaaar!


* * *


Edgaaaaaaar! Aufwachen! Was ist los mit dir? Edgar spürte eine Ladung Wasser auf sein Gesicht klatschen. Wahrscheinlich Brunnenwasser, denn er glaubte neben den ihm inzwischen wohlbekannten Kolibakterien auch noch Amöben herausschmecken zu können. Nur ganz langsam kehrten die Lebensgeister zurück. Benommen und mit verschleiertem Blick sah er sich um. Etwa ein Dutzend Augenpaare, einige davon unter olivfarbenen Mützen, starrte ihn an, als käme er aus einem anderen Universum. Er wusste nicht, wo er war. Er wusste nicht, wer sie waren. Was wollten sie von ihm? Es klopfte an der Tür, und niemand machte auf. Es klopfte und klopfte und klopfte. Warum macht ihr die Tür nicht auf, dachte Edgar, es könnte immerhin der Osterhase sein. Ist doch jetzt die Zeit. Vielleicht bringt er ein paar bemalte Eier oder andere Leckereien. Es klopfte immer noch. Klopf! Klopf! KLOPF!


* * *


Edgaaaaaaar! Edgar glaubte das Telefon zu hören. Er war sich sicher, es ausgeschaltet zu haben, doch anscheinend hatte er sich geirrt. Schlaftrunken und unter starkem Kopfschmerz stand er auf. Au Mann, dachte er, vielleicht bin ich zu alt, um die ganze Nacht durchzumachen. Ihm fiel ein, dass er gestern Abend einige Altschuss vernichtet hatte. Trotzdem war er noch mit dem eigenen PKW nach Hause gefahren, wie er es immer tat. Das Telefon klingelte jetzt nicht mehr. Wenn es überhaupt jemals geklingelt hatte. Stattdessen klopfte jemand an die Tür.


»Edgar, machen Sie doch die Tür auf! Edgaaaaaaar! Sind Sie zu Hause? Machen Sie doch die Tür auf! Ich weiß doch, dass Sie zu Hause sind. Machen Sie doch bitte auf!«


Wenn er doch weiß, dass ich in meiner Wohnung bin – und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er das immer weiß – , dachte Edgar, warum zum Teufel fragt er dann so bescheuert?


Jetzt war Edgar beinahe hellwach. Er erinnerte sich daran, dass er einerseits von einer seiner Rumänienreisen geträumt und andererseits, dass er die Klingel abgestellt hatte, weil er in Ruhe ausschlafen wollte. Die Klingel stellte er häufig ab. Es war nicht ungewöhnlich. Ein Traum im Traum, dachte er jetzt, das gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht. Wie in einem Gedicht von Edgar Allan Poe – A Dream within a Dream –, das seinerzeit in Edgars winzigem Jugendzimmer gehangen hatte, weil seine Eltern es so schön fanden. Und Edgar auch. Vielleicht hatten ihn seine Eltern sogar nach diesem amerikanischen Schriftsteller und Dichter benannt. Und vielleicht sollte er sie mal danach fragen. Also, seine Mutter jedenfalls...

In zwei Wochen oder so muss ich schon wieder arbeiten. Spätestens dann sollte ich zurück in Ostfriesland sein...

Aus aktuellem Anlass: In Emden gibt es zwei Gymnasien, wenn mich nicht alles täuscht. Eines davon soll wohl geschlossen werden, denn an mehreren Orten in in der Stadt, auch hier in Wolthusen, hängen Plakate, auf denen sinngemäß steht: Emden braucht zwei Gymnasien...

Wenn man statt Gymnasien Genasien auf diese Plakate geschrieben hätte, dann käme wohl niemand mehr auf die Idee, eine dieser beiden Schulen zu schließen ;-)

Prost!