Samstag, 19. Oktober 2013

Im Gespräch mit einer Bekassine

Wie bereits im Beitrag über Grünschenkel und Dunkler Wasserläufer erwähnt, hatte ich im September nach sehr langer Zeit endlich wieder die Gelegenheit, Limikolen an einem Teich im Wybelsumer Polder zu fotografieren.

Aufgrund des sehr langen Winters und des sehr kalten und niederschlagsreichen Frühjahrs hat es Monate gebraucht, bis sich die ersten Schlammbänke am Ufer des Teiches zaghaft ans Licht getraut haben. Der September hingegen benötigte lediglich zwei Tage, um große Teile dieser für Limikolen so wertvollen Flächen wieder zu versenken. Da das Wetter kaum besser zu werden drohte, war mein Unterfangen ein Wettlauf mit der Zeit.

Denn schon einen Tag, nachdem ich mein Versteck errichtet hatte, öffnete Petrus plötzlich wie auf Absprache die Schleusen, wobei ihm ein Fehler unterlaufen sein musste, denn die Menge, die da vom Himmel fiel, hätte durchaus auch für einen ganzen Monat gereicht. In Burkina Faso sogar für drei Jahre! Nach einem Tag Unterbrechung dann die nächsten Fluten, und wieder einige Tage später gab es abermals einen kompletten Regentag mit gefühlten vier Millionen mit Wasser gefüllten Eimern auf den Quadratzentimeter. Die Folge: Mein geiles Tarnzelt stand bereits nach wenigen Tagen zur Hälfte im Wasser. Mit zwei Regalbrettern aber, die ich unter meine Isomatte legte, konnte ich zunächst noch Schlimmstes abwenden.

Inzwischen habe ich mein Tarnzelt längst wieder abgebaut. Viele schöne Bilder und auch Beobachtungen konnte ich dort machen, doch trotzdem hoffe ich natürlich, dass ich auch im kommenden Jahr die Gelegenheit bekommen werde, mich an diesem Teich ein wenig auszutoben.

Egal, jetzt möchte ich einfach mal wiedergeben, was sich so an einem einzigen Vormittag dort abgespielt hat:

Ich bin* nicht aus Zucker. Und so begebe ich mich an einem sehr frühen Morgen, etwa eineinhalb Stunden vor Tagesanbruch, in mein Versteck. Albtraum und endloses Glück auf einmal erlebe ich dann nach Sonnenaufgang, weil ich im hartnäckigen Dauerregen endlich die geile Bekassine vor die Linse bekomme:

awesome Common Snipe

In der Vergangenheit landeten Bekassinen grundsätzlich hinter meinem Tarnzelt, doch an diesem dunklen Morgen werde ich für diese ewige Schmach gebührend entschädigt. Während ich also auf meiner einzigartigen und selbstaufblasbaren Isomatte liege und das Wasser von oben und unten in meine Klamotten eindringt, beobachte ich fasziniert diesen Vogel, der sich mir zeitweilig bis auf fünfzig Zentimeter nähert und zunächst keinen Verdacht schöpft:


Doch dann muss ich husten, weil ein Teil meines Käsebrötchens Speise- und Luftröhre miteinander verwechselt hat. 

Der Vogel hält inne und merkt auf:

Der Hals wird immer länger:

"Edgar, bist du das etwa?"

Ich wollte es eigentlich nie verraten, aber ich kann mich mit den meisten Vögeln auf sehr hohem Niveau unterhalten, geradezu parlieren. Mein Namenspatron, Franz von Assisi, hat es mir schließlich im 12. und 13. Jahrhundert vorgemacht und mir entsprechend mit auf den Weg gegeben.

"Jau."

"Meine Güte, hast du mich aber jetzt erschreckt!" raunt die Bekassine.

"Tut mir Leid. Ich bin heute hier, weil ich ein paar hübsche Bilder von dir machen möchte. Schließlich bist du der Vogel des Jahres. Darf ich? Büdde, büdde..."

Die Bekassine überlegt nicht lang: "Du darfst das natürlich immer, weil du so schöne Bilder machst. Da muss ich mich auch nicht schämen, dass ich eventuell blöd rüberkomme. Und was den Vogel des Jahres anbelangt, also diese Auszeichnung, da kann ich nur feststellen, dass sie eh nichts bringt, weil sich die meisten Menschen nicht für die Natur interessieren. Du bist da anders, aber für Millionen Menschen existiere ich eigentlich nicht einmal. Traurig ist das, ganz arm."

Der Vogel rümpft empört die Nase.

"Und wieso bist du eigentlich unter der Woche hier. Musst du nicht arbeiten?"

Ich entscheide mich für die schonungslose Wahrheit: "Hab' in den Sack gehauen. Viereinhalb Jahre mit einem Kollegen, der fünf Arbeitstage die Woche schlechte Laune hat, sollten reichen. Bin nach einem klitzekleinen Fehler meinerseits einfach nach Hause gegangen und erst gar nicht wieder hin. Habe das für mich so entschieden, weil ich in meinem Alter auch ein bisschen an meine Gesundheit denken muss. Herzklabaster und so weiter, du verstehst das bestimmt. Wenn die Wochenenden nicht mehr ausreichen und auch ein dreiwöchiger Urlaub nicht lang genug ist, um sich von der Arbeit zu erholen, dann muss man schleunigst die Reißleine ziehen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Unvernunft sei im Kampf gegen die Sicherheit als Sieger vom Platz gegangen. Doch dieses vermeintlich Sichere ist nichts anderes als ein verficktes Hamsterrad gewesen, das mir am Ende ganz bestimmt das Genick gebrochen hätte! Außerdem wären eigentlich für die gesamte Zeit, die kompletten viereinhalb Jahre, zwei Gehälter angemessen gewesen, habe ich doch zusätzlich auch noch als Therapeut gearbeitet. Wenn auch erfolglos."

Die Bekassine zeigt aufrichtiges Mitgefühl: "Und jetzt?"

"Weiß nicht. Wahrscheinlich ist es keine Kunst, einen neuen Job an Land zu ziehen, der einem nichts bedeutet. Und für den Fall, dass mir das hier in Ostfriesland nicht gelingen sollte, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als das platte Land zu verlassen. Doch das wäre schade, weil es hier schön ist und es natürlich auch sehr sympathische Menschen gibt. Mal sehen, vielleicht gehe ich nach Burkina Faso. Oder nach Chabarowsk..."




"Aber was ist eigentlich mit dir? Wohin wird dich deine Reise führen. Ich meine, du willst doch wohl nicht hier im kalten Emden überwintern, oder?"

Die Schnepfe schmunzelt amüsiert: "Du lenkst ab. Und das auch noch grottenschlecht. Aber ich will es dir nicht verdenken. Ich werde nach Afrika fliegen. Ich will mir mal den Tschadsee anschauen. Wer weiß schon, wie lange es ihn noch geben wird. Man hört da unter Kollegen die wildesten Gerüchte." Der Vogel überlegt kurz: "Äh, apropos Kollegen, wie war es denn jetzt genau mit deinem?"

"Moment", sage ich, "ich muss mir erst einmal eine Fluppe anstecken."

Ich suche und finde schließlich mein Feuerzeug und stelle fest, dass das Rauchen im Liegen, noch dazu in einem engen und triefenden Tarnzelt, wirklich keine lustige Sache ist.

"Scheiße, der Rauch zieht nicht ab!"

Nachdem ich meine Zigarette unter Kontrolle gebracht habe, beschließe ich spontan, mein transparentes Ablenkungsmanöver fortzusetzen: "Du weißt schon, dass das da im Süden sehr gefährlich ist, dass da kilometerlange Netze stehen, dass die Leute rund ums Mittelmeer vor allem aus Spaß Vögel abballern. Millionenfach. Einfach so, weil sie Scheiße im Hirn haben. Sie bezeichnen das als Tradition."

Inzwischen drohe ich zu ersticken, drücke die Zigarette aber trotzdem nicht aus, ziehe stattdessen mein Programm durch und ganz tief an ihr, um einen erneuten Hustenanfall zu provozieren.

"Ich kann auf mich aufpassen", meinte die Bekassine selbstbewusst. "Mach mal die Zigarette aus, das hört sich ja schlimm an. Außerdem schuldest du mir noch eine Antwort."

"Du willst es wirklich wissen?"

Die Bekassine nickt.

"Okay, du hast es nicht anders gewollt. Die Wahrheit ist, dass ich eigentlich Pazifist bin und jegliche Waffen verabscheue. Das beginnt bei der Jagd und hört bei irgendwelchen fanatischen Religionsarschlöchern auf. Meine Wasserpistole, sie ist grasgrün und liegt in meinem Bad, habe ich mir in den USA nur deshalb gekauft, weil man sich den Landessitten irgendwie anpassen und im Fall der Fälle auf gleicher Höhe sein sollte. Doch inzwischen hat sich in mir ein Wandel vollzogen. Ich meine, wenn mir jemand Straffreiheit garantierte, dann würde ich meinem Kollegen, also so meinem Exkollegen, ganz gerne ein bis zwei Projektile in die Birne jagen. Dorthin, wo wahrscheinlich die Larven der Krötengoldfliege ihr Unwesen treiben. Quatsch, ich würde wahrscheinlich das ganze Magazin leerballern, um sicher zu gehen, dass es am Ende auch wirklich gereicht hat. Es gibt halt Dinge, die darf man einfach nicht abbrechen, die muss man durchziehen. Und was soll man auch mit einem halbvollen Magazin anfangen..."

"Oh, das hört sich aber nicht so gut an."

"Das hast du aber jetzt sehr moderat ausgedrückt, du hübscher Vogel. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen, meine gute Erziehung lässt so etwas gar nicht zu, ich meine, ich will ja auch nicht in den Bau und so. Ich bin einfach nicht der Typ für sowas, obwohl er es verdient hätte. Immer wieder liest man von solchen Fällen, denkt, dass das aber ein Arschloch sein muss, also der vermeintliche Mörder, völlig durchgeknallt, doch vielleicht ist es genau andersrum gewesen, vielleicht hat er einfach nur reagiert, nach jahrelangem Martyrium, doch nie steht etwas über die Hintergründe in solchen Mitteilungen. Künftig werde ich mir einfach mehr Mühe geben, Verständnis für solche Leute aufzubringen. Nur am Arbeitsplatz verpulvert man sehr viel Zeit mit Menschen, die man eigentlich nicht mag. Eine Zwangsgemeinschaft. Man ist ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es heißt immer, man solle anderen Menschen nichts Böses wünschen, aber ich finde, dass das Quatsch ist. Ich denke da gerade an unseren Adolf. Und mein Kollege ist ein Hitler im Kleinen, einer, der wenigstens einmal in seinem verfickten Leben was zu sagen haben will, der allen seine Meinung aufdrängt, der sich allen überlegen fühlt, aber zum Beispiel nicht einmal das Wort parallel (und weitere) korrekt aussprechen kann. Er sagt immer pa-a-lel."

Ich unterbreche kurz, weil ich lachen muss.

"Witzig ist, dass er sich in seiner grenzenlosen Überheblichkeit auch in dieser Hinsicht über andere Mitarbeiter lustig macht, ohne zu bemerken, dass er auf der Leiter der sprachlichen Evolution gerade mal eine halbe Sprosse höher steht - wenn überhaupt. Wenn ich mich richtig erinnere, besteht sein Vokabular aus nur drei Worten: sach - ich - mal. Oder sogar vier, wie mir gerade einfällt: Ich - sach - mal - so! Ich wünsche ihm folgerichtig alles erdenklich Schlechte, weil er einer jener Menschen ist, die wirklich keiner braucht. Er ist ein Fremdkörper in Ostfriesland. Ach, ein Fremdkörper in ganz Norddeutschland. Und in Wuppertal, daher stammt diese erbärmliche Kreatur, reiben sie sich wahrscheinlich noch heute die Hände, weil sie ihn nicht mehr ertragen müssen. Ich meine, niemand in der ganzen Firma kann ihn leiden, nur fehlt es ihm an der nötigen Sensibilität, um diese Schwingungen auch zu spüren. In dieser Hinsicht ist er teflonbeschichtet. Wahrscheinlich wird er eines Tages irgendwo auf dem Firmengelände gefunden werden, weil dann eben einem anderen Mitarbeiter die Sicherungen durchgebrannt sind."

Die Bekassine schüttelt angewidert den Kopf:

"Du willst bestimmt ein Beispiel hören. Kannste haben. Mein geiler Exkollege predigt gerne Anstand und Respekt. Jeden Tag! Was er nicht weiß, ist, dass er als einziger Mitarbeiter in dieser Baumschule weder das eine noch das andere kennt. Wenn jemand eine Jacke über die Stuhllehne legt, dann gibt er erst dann Ruhe, wenn sie wieder verschwunden ist. Zu einem anderen Kollegen, der war in dieser Hinsicht ein Wiederholungstäter, hat er mal in diesem Zusammenhang gesagt, dass selbst sein Hund schneller lerne. Das sehe nämlich krosig aus, sagt er dann immer, ein Ausdruck, der mir bis dahin unbekannt war und der wohl aus dem Wuppertaler Ghetto stammt. Wenn jemand eine Schublade auflässt, dreht er durch und vergreift sich im Ton. Und er hat dann vielleicht mal einen Ton am Leib, das kannst du dir nicht vorstellen. Die Leute machen dann einfach alles, was er von ihnen verlangt, aber nur, weil sie ihre Ruhe haben wollen. Der Klügere gibt nach und so weiter. Und es gibt wohl keinen in dieser verfickten Kirmesbude, mit dem er sich noch nicht angelegt hat. Immer wieder musste ich in diesen Jahren mitansehen, wie er verschiedenen Kollegen, vor allem aus der Produktion, mit zu Fäusten geballten Händen gegenüberstand. Die Fingerknöchel waren dann immer ganz weiß. Hau zu, habe ich in solchen Situationen gedacht, hau endlich zu, dann biste weg vom Fenster, du Arschloch. Es ist sein täglich Brot, aggressiv zu sein. Wenn er seinen Willen nicht bekommt, knallen sogar Türen. Auch mehrere hintereinander. Der Hammer aber ist, dass ich zuvor noch nie einen erwachsenen Menschen gesehen hatte, der wie ein kleiner Junge an der Supermarktkasse zornig mit dem Fuß auf den Boden stampft, wenn man ihm das Bounty verweigert. In solchen Momenten, die nicht ganz frei von absurder Komik waren, musste ich immer lachen. Hinter vorgehaltener Hand, wohlgemerkt, denn wahrscheinlich wäre er komplett durchgedreht, wenn er das auch nur ein einziges Mal mitbekommen hätte. Nichtsdestotrotz furzt er den ganzen Tag, auch dann, wenn ich gerade mein Pausenbrot hinunterschlinge. Er furzt extra und hebt demonstrativ seinen Arsch an. Aber auch das macht er nur, wenn kein anderer anwesend ist. Mehrfach hatte ich ihn schon vor Jahren darum gebeten, das einfach mal zu unterlassen, doch das juckt ihn nicht. Das ist dann seine Art von Humor, seine Variation von Anstand. Im umgekehrten Fall hätte er nicht einfach aufgegeben. Er hätte mich auch nicht einfach gebeten, er hätte mir in seiner ganz eigenen und unmissverständlichen Art befohlen, das zu unterlassen. Und dann wäre er zusätzlich noch petzen gegangen, weil er auf dem Niveau eines Kindergartenkindes stehengeblieben ist. Für mich jedenfalls ist Anstand ein anderes Wort für Verlogenheit, weil man Dinge tut, die einem vielleicht zuwider sind. Niemandem ist damit geholfen. Es kann in solchen Fällen nur Verlierer geben... hmmh", ich überlege kurz, "die Zeit ist schon wieder um, eine neue Zigarette muss her..."

Während ich also wieder meine Raucherutensilien zusammensuche, stochert die Bekassine im Schlamm nach Gewürm (das Bild passt nicht so ganz):


Rauch zieht auf, das Tarnzelt scheint zu brennen.

"Eine weitere Anekdote gefällig?" frage ich.

"Gerne. Ich kann gut zuhören."

"Ein anderer Kollege fragte mich mal, ob ich nicht Fotos von ihm machen könne. Er brauchte sie für Facebook oder Fischkopf. Also machte ich einige herausragende Bilder von ihm, auf denen er fast wie George Clooney aussah. Der Kollege bot mir Geld an, doch ich bin alles andere als ein Geschäftsmann. Und die Aktion hat ja auch nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Bring mir 'ne Tüte Haribo Colorado mit, das reicht dann auch, habe ich zu ihm gesagt. Ich hatte die Sache längst vergessen, aber am nächsten Tag brachte dieser Kollege dann tatsächlich eine Tüte mit, nur war ich da wohl gerade nicht im Labor. Und als ich dann reinkam, hatte mein Kollege, also das Arschloch, eben genau diese Tüte in seinen Griffeln und fraß fleißig meinen Lohn für das Shooting. Wortlos nahm ich sie ihm aus der Hand und knallte sie in meine Schublade. Ich meine, selbst falls Wilhelm, so heißt der Mensch, von dem ich die Bilder gemacht hatte, gesagt haben sollte, es, das Arschloch, könne die Tüte ruhig öffnen (er hat es aber nicht gesagt, wie er mir versicherte), dann wartet man als Mensch, der jeden Tag Anstand und Respekt predigt, doch trotzdem erst einmal darauf, dass der Besitzer anwesend ist, um ihn um Erlaubnis zu bitten. Doch in seiner Unverschämtheit ist mein geiler Kollege nicht darauf gekommen."

Ich nehme einen kräftigen Schluck aus meiner O-Saft-Pulle.

"Dass wir uns da jetzt nicht missverstehen, bei jedem anderen wäre es mir egal gewesen, aber eben nicht bei ihm. Nie hat er etwas für die Allgemeinheit mitgebracht, wenigstens die letzten Jahre nicht, aber er war und ist immer der Erste, der zugreift und sich nicht selten sogar gleich die Taschen vollstopft, weil er Angst hat, zu kurz zu kommen. Und das ist unverschämt!"

"Wo hast du eigentlich gearbeitet?" fragt die Bekassine vorsichtig.

"Niedersächsisches Landeskrankenhaus Norden. Außenstelle Georgsheil."

Die Bekassine lacht etwas meckernd.

"Ich kann dir das nicht sagen, dann verklagen die mich. Da verstehen die wahrscheinlich keinen Spaß, die können nämlich nur über ihre eigenen Witze lachen. Ich gebe dir einfach mal noch weitere Fallbeispiele, okay."

Der Vogel nickt einfach.

"In den letzten Jahren hatten wir immer wieder Praktikanten, die für ihr Studium entsprechende Nachweise benötigten. Eigentlich hat es keinen gegeben, der meinem Exkollegen zugesagt hat (was er nicht weiß: diese Antipathie beruhte ausnahmslos auf Gegenseitigkeit). An allen hatte er schon was auszusetzen, noch bevor das erste Wort überhaupt gefallen war. Der eine hat einen Buckel (was kann der dafür), der andere geht vornübergebeugt, ein Dritter riecht nicht gut. Niemand passt in sein enges Weltbild, nicht einmal sein eigener Bruder, der ganz anders ist, sogar sympathisch. Aber auch über den zog er immer mal wieder her, weil dessen Lebensweise von seiner eigenen deutlich abweicht. Egal, wir hatten mal einen Praktikanten, der tatsächlich etwas seltsam war, sehr still zunächst und auch sehr schüchtern. Diese Menschen kommen nur ein einziges Mal in ihrem Leben zu uns ins Labor, und dann sollte es nicht schwerfallen, sich ausnahmsweise mal zusammenzureißen und freundlich zu sein. Doch mein werter Exkollege ignorierte ihn in seiner stark ausgeprägten Feinfühligkeit einfach, ging nicht einen einzigen Zentimeter auf ihn zu, sprach nicht ein einziges Wort mit dem armen Würstchen. Ich saß am Mikroskop, der Praktikant zusammen mit dem Arschloch in einem anderen Raum. Irgendwann kam der Junge zu mir und meinte: Jetzt hat er mit mir gesprochen. Ich war gespannt und fragte nach: Was hat er denn gesagt? Der Praktikant: Er meinte, dass man den Stuhl nach dem Aufstehen auch wieder an den Schreibtisch schieben könne. Dabei hat er ganz böse geguckt. Ich war entsetzt, musste aber auch lachen, weil ich es nicht anders erwartet hatte. Kannst hier bleiben, habe ich zu dem Knirps gesagt, hast ja eh gleich Feierabend. Soll der Idiot doch allein da rumsitzen. Wie immer halt."

"Ist ja grauenvoll!"

"Noch schlimmer. Wenn ich Urlaub hatte, musste mich jemand vertreten. Alle, die jemals mit ihm zusammenarbeiten musste, sagten anschließend: nie wieder! Mit so einem Arschloch arbeite ich nie wieder! Wie hältst du das überhaupt aus mit dem? Das geht ja gar nicht und so weiter. Der ist völlig gestört. Beinahe alle Mitarbeiter dieser Klitsche sind im Laufe der viereinhalb Jahre zu mir gekommen, um sich bei mir über meinen Kollegen zu beschweren. Und ich habe immer dieselbe Antwort gegeben: Nicht mir müsst ihr das sagen. Ich weiß, dass er ein Arschloch ist. Schließlich verbringe ich mit ihm mehr Zeit als mir lieb ist. Ihm müsst ihr das sagen, sonst wird er es nie erfahren. Mir glaubt er nämlich nicht. Doch sie sind alle zu feige gewesen, besitzen kein Rückgrat, keinen Mumm in den Knochen. Wohl niemand hat es ihm jemals gesteckt."

"Willste auch einen Wurm haben? Habe gerade einen besonders leckeren gefunden."

"Nee, lass mal gut sein, ich habe meine geilen Käsebrötchen. Weißt du, was neben Jähzorn und Hass die schlimmste Eigenschaft dieser Fratze ist? Nein? Er ist der amtierende Weltmeister im Petzen und Denunzieren. Im Dritten Reich hätte er Karriere machen können, da waren sie auf solch abartiges Gestrüpp angewiesen. Wegen Peanuts rennt er zum Chef, wegen jedem Scheiß und das nicht nur, wenn es um mich ging. Und er scheut sich auch nicht, Unwahrheiten zu erzählen. Mir zum Beispiel hat er nachgesagt, ich würde Überstunden machen, um dann einmal im Monat einen zusätzlichen Tag freinehmen zu können, was natürlich Schwachsinn ist. Denn jede Minute, die ich dort verbringen musste, war eine Minute zu viel. Ich gehe lieber nach draußen, um meine Seele baumeln zu lassen. Wochenlang ist er deswegen zum Chef gelaufen, jeden einzelnen Tag. Und er hat ihn aufgefordert, in dieser "Angelegenheit" mit dem Geschäftsführer zu sprechen, was der immerhin abgelehnt hat. Mein Exkollege schnüffelt überall herum, um anderen eins auswischen zu können. Wenn ich am Montag, da gab es immer besonders viel zu tun, zweieinhalb Stunden länger gemacht habe, dann hat er aber in vergleichbaren Fällen am Dienstag zweieinhalb Stunden früher angefangen. Wo ist da der Unterschied? Ich meine, ich erzähle denen doch auch nicht, dass er einige Male im Archiv gepennt hat, auf dem Boden, wenn alle vermeintlich wichtigen Leute diese verfluchte Hütte bereits verlassen hatten. Obwohl das der Wahrheit entsprochen hätte. Petzen ist nicht meine Welt, das hat man mir schon im Kindergarten beigebracht. Ich erzähle das jetzt auch nur dir, so im Vertrauen."

Ich suche wieder meine Zigaretten und finde sie.

"Und er trägt jedem jeden noch so kleinen Fehler hinterher. Ich habe seine einfach immer so korrigiert, wenn sich mir der Kontext auf die Schnelle erschloss, doch irgendwann habe ich auch damit angefangen, sie ihm aufzuzeigen, weil er ja sonst denken musste, dass er keine macht. Und es war immer schön zu sehen, wie er dann jedesmal mit den Zähnen mahlte. Was für eine Kreatur! Ich meine, das muss doch auch fürchterlich anstrengend sein, wenn man so unter Strom steht und alle anderen hasst."

Ich überlege wieder kurz, setze dann nach: "Ich muss zugeben, dass ich ihn von Beginn an abstoßend fand. Alles an ihm. Seine ganze Art, seine Stimme und sogar seine Bewegungen, die immer etwas comic-haftes haben. Wenn ich ihn sah, mit seiner hassverzerrten und unsympathischen Fresse, das sage ich jetzt auch nur dir, wieder so ganz im Vertrauen, dann musste ich immer an braune Streifen in ausgeleierten und verwaschenen Unterhosen denken, an Löcher in stinkenden Socken. Und erst jetzt verschwindet allmählich der Duft aus meiner Nase. Sein Duft. An mindestens drei von fünf Wochentagen roch er nämlich nach Schweiß, und wenn er sein legendäres, raumergreifendes Rasierwasser benutzte, irgend so ein Altherren-Fliegengift für drei Euro das 200-Liter-Fass, dann bekam ich den ganzen Tag Kopfweh. Es gibt einfach Menschen, die keinen Stil haben. Sie können machen, was sie wollen. Es wird einfach nichts. Das sagt meine Schwester immer. Recht hat sie. Und nur so nebenbei: Wie über viele andere Dinge auch lästerte Herr P. in seiner Überheblichkeit über andere Mitarbeiter, wenn ihr Deo mal versagt hatte oder aus vielen anderen Gründen, doch alle negativen Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, vereinigt er selbst in einer einzigen Person!  In den letzten zwei Jahren habe ich ihm auch nicht mehr die Hand gegeben, weil ich ihn so eklig fand. Anderen schon, auch und gerade in seinem Beisein. Und er hatte dann immer diese steile Falte zwischen den Brauen, starrte angestrengt auf den Monitor seines Rechners, und das fand ich dann toll."

Nach einer weiteren kurzen Pause: "Ich muss ihm aber auch zugestehen, dass er einmal im Quartal gute Laune hatte, okay, die letzten zwei Jahre ist auch das irgendwie auf der Strecke geblieben. Meist ist das an einem Freitag gewesen. Dann kam ich morgens ins Labor, und die Musik lief bereits, obwohl wir sonst nie Musik hörten. War eigentlich auch untersagt. Weil er dann gute Laune hatte, musste ich dann automatisch auch gute Laune haben. Er hat mich in solch seltenen Fällen nie gefragt, ob ich Musik hören möchte. Überhaupt hat er mich nie gefragt, was ich will. Eigentlich liebe ich Musik am Arbeitsplatz, doch ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand ganz allein darüber bestimmt, wann und wie laut sie zu laufen hat! Meine Meinung ist: Entweder sie läuft immer oder eben gar nicht. Diese Gute-Laune-Ausbrüche hielten aber nie länger als einen Tag vor, meistens waren sie nach ein paar Stunden wieder vorbei und fast immer aus nichtigem Anlass. Dann achtete Herr P. wieder darauf, dass alle Mitarbeiter die von ihm aufgestellten Regeln einhielten, obwohl er nichts zu sagen hat. Er selbst aber war die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und brauchte sich an die eigens aufgestellten Bestimmungen nicht zu halten. Wenn er dann wieder einmal aus nichtigen Gründen austickte, dann konnte er aber, sobald irgendein "Chef" hereinkam, den Hebel im Bruchteil einer Sekunde umlegen und eine andere Maske aufsetzen. Eine kriecherische, denn Kriechen ist eine seiner weiteren Stärken, während ich mir wenigstens vornehme, alle Menschen gleich zu behandeln, egal, welche Position sie bekleiden. Mir ist es scheißegal, wer da vor mir steht. Wenn er freundlich und vielleicht auch noch sympathisch ist, dann bekommt er es genauso von mir zurück. Er aber ist sofort zur Stelle, wenn irgendeinem Vorgesetzten etwas Speichel über die Lippen läuft. Noch bevor der Tropfen den Fußboden erreichen kann, fängt er ihn auf und schluckt ihn gierig hinunter. Ich meine, die ersten zwei Jahre gingen noch, aber nur, weil ich immer nachgegebem habe. Doch man kann einfach nicht immer nachgeben, das muss auch mal ein Ende haben, weil sonst ja die Dummen das Zepter in der Hand halten und die Welt regieren. Auf ewig. Und das darf einfach nicht sein. Jedenfalls wurde er so richtig zum Scheusal, nachdem ich mein eigenes Gebläse eingeschaltet hatte. Gegenwind aber passt einfach nicht in sein Konzept, den kann er nicht wechseln."


"Schreibst du das jetzt alles in den Beitrag, der eigentlich mir gewidmet ist?" fragt die Bekassine vorsichtig.

"So ist es, denn mein Blog ist jetzt ausnahmsweise mal meine Therapeutin. Und dich beziehe ich auch einfach mal mit ein. Das kostet mich nichts, und es tut gut, das alles einmal aufzuschreiben und auszusprechen. Es hilft mir. Wenigstens vorübergehend. Und vielleicht hilft es sogar anderen Menschen, weil sie sehen, dass sie mit einem ähnlichen Problem nicht alleine sind. Menschen wie Herr P. gibt es zuhauf! Sie sind überall. Ein anderer Kollege hat es mal auf den Punkt gebracht: Edgar, hat er so gesagt, egal, in welcher Firma du anfängst, egal, in welcher Abteilung, mindestens ein Arschloch ist schon da und wartet auf dich. Frustrierte Wichser, die wahrscheinlich nie etwas erleben, die zu Hause auf dem schmierigen Sofa kauern und darauf warten, dass sie endlich wieder zur Arbeit fahren können, um anderen Menschen, die eigentlich glücklich sind, das Leben zur Hölle zu machen. Menschen, die unzufrieden sind und das Glück anderer nicht ertragen können. Menschen, die sich wahrscheinlich nicht einmal selbst ausstehen können. Und dieser Kollege hat Recht: Sie haben nichts, und sie erleben auch nichts. Für meinen Kollegen zum Beispiel ist das Dörpfest in Münkeboe schon der absolute Höhepunkt des Jahres! Das war's dann auch schon, dann ist das Jahr geschafft. Und an zwei Orten leben Typen wie er ihren Frust aus: im Auto auf der Straße und eben am Arbeitsplatz. Solche Menschen, die andere nicht in Frieden leben lassen können, sind verantwortlich dafür, dass es Kriege gibt. Am Arbeitsplatz. Am Gartenzaun. Und an Staatsgrenzen."




Die Bekassine wirkt sichtlich bewegt, fast sogar schockiert. Eine ganze Weile sagt keiner etwas, doch dann durchbricht der Vogel die etwas unangenehme Stille und nimmt den Faden wieder auf:

"Wenn das bekannt war, dass dein Kollege so ist, wieso hat dann niemand etwas unternommen?"

"Gute Frage. Das verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht vor allem deshalb, weil ich es gewesen bin, der ihn ertragen musste. Alle anderen hatten dann ja ihre Ruhe, waren fein raus. Das stinkende Arschloch hat mehrere Gespräche gehabt, jeweils ohne Aussicht auf Erfolg. Übrigens hat er diese Gespräche immer dann bekommen, wenn er sich zuvor über mich beschwert hatte. Das lief immer nach dem gleichen Schema ab: Er ging zum Chef, erzählte wirres Zeug, der kam daraufhin zu mir, befragte mich dazu, und die Null bekam dann ein Gespräch, weil ich immer alles plausibel erklären konnte. Er wiederum war dann sauer auf mich, obwohl er zuvor selbst alles in die Wege geleitet hatte. Es waren Eigentore. Doch ihm fehlt jeglicher Intellekt, er kann solche Zusammenhänge nicht erschließen, da fehlt was Entscheidendes. Da ist ein Loch im Hirn. Da ist ganz offensichtlich etwas weggefault. Ich kann jedenfalls nicht verstehen, warum sie mir nicht einfach vertraut haben. Schon nach seinem ersten Gespräch muss doch bereits klar gewesen sein, wer die Fliegenmaden im Hirn hat. Und sie sagten damals ja auch, dass der Typ sich uneinsichtig zeigte, dass da wohl nie eine Besserung eintreten würde. Alle wussten bereits zu diesem Zeitpunkt, dass da nicht einmal Pillen helfen könnten. Ich meine, zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass sich auch andere Abteilungen, die nur marginal mit ihm zu tun hatten, über ihn beschwerten. Ständig. Und zwar keineswegs nur bei mir."

Ich muss den Kopf schütteln:  "Marginal, was für ein bescheuertes Wort!"

Und nachdem ich von einem weiteren Käsebrötchen abgebissen habe: "Doch immer wieder haben sie sich sein hohles Gelaber angehört, weshalb auch sie richtige Nieten für mich sind. Einer der Geschäftsführer hat sogar einmal einfach so zu dem Proleten gesagt: Herr P., die schlechte Laune lassen wir zu Hause. Woher weiß der das, habe ich mich gefragt. Ich hatte nämlich zu diesem frühen Zeitpunkt noch nie etwas dazu gesagt, weil ich grundsätzlich der Meinung bin, dass Petzen ganz arm ist und sie von allein darauf kommen müssten. Egal, sie haben mir nicht geholfen, sich nicht die Mühe gemacht, andere Kollegen zum Thema zu befragen, die ähnliche Erfahrungen mit Mr. Inflatulenz machen durften wie ich. Im Trinksport allerdings zeigen diese "Führungskräfte" ausnahmslos mehr Talent als im "Leiten" von Mitarbeitern. Wenn sie Alkohol auf irgendeiner Feier trinken, Weihnachten oder was weiß ich, dann endet das automatisch im Vollrausch. Wirklich ausnahmslos. Quartalssäufer. Wie Harald Juhnke. Und der eine Geschäftsführer ist darüber hinaus auch noch ein schlimmer Teilzeitcholeriker, der immer mal wieder rumschreit. Das ist so eine Art Hobby von dem. Er bekommt einen dunkelroten Hals und wird dann sehr, sehr laut. Richtige Eruptionen sind das dann. Trotzdem will ich fair sein, denn mich hat er immer in Ruhe gelassen. Trotzdem kann mit einem Menschen, der zu solch unglaublichen Tobsuchtsanfällen neigt, nicht mehr alles in Ordnung sein. Der ist doch dann auch nicht mehr ganz astrein. Und ich habe mal gehört, dass er sogar seine Pferde anschreien soll!"



Ich stelle mir das gerade vor und muss laut lachen. Die Bekassine kann sich auch nicht zurückhalten, doch dann fällt ausnahmsweise mal mir eine Frage ein:

"Du hast ja diesen unglaublich langen Schnabel. Du isst quasi mit Stäbchen. Von Hause aus. Kannst du eigentlich deine Zunge vorne rausstrecken?"

"Ich bin kein Specht. Und zu deinen Ausführungen fällt mir ein Satz ein, den ich mal irgendwo aufgeschnappt habe: Wenn man die Menschen kennt, dann fällt es schwer, sie nicht zu verachten."

"Das passt zumindest zu meinen Erfahrungen am Arbeitsplatz wie der berühmte Arsch auf den Eimer. In meinem Privatleben habe ich solche Sorgen nicht, da kann ich ja schließlich selbst entscheiden, mit wem ich wann was machen möchte. Ein kluger Satz ist das, Bekassine. Du bist blitzgescheit!"

"Freut mich, aber diese Weisheit ist nicht auf meiner Schlammfläche gewachsen. Konrad Adenauer soll das mal gesagt haben..."

Ich bin überrascht: "Woher kennst du den denn?"

"Meine Mutter hat mir mal was über ihn erzählt."

Ich überlege kurz.

"Wenn du so klug bist, dann hast du bestimmt auch studiert."

"Ich nicht", meint die Bekassine, "aber meine Mama. Nämlich Wurmologie. Ist vergleichbar mit Ökotrophologie bei euch Menschen."

"Du beeindruckst mich. Du hast einen skandinavischen Akzent. Woher genau kommst du eigentlich?"

"Ich muss dich enttäuschen, du liegst völlig falsch. Ich bin eine waschechte Estin!"

"Nicht schlecht, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Und, wie gefällt dir unser ostfriesisches Outback?"

"Zum Rasten auf dem anstrengenden Zug reicht es allemal, brüten wollte ich in dieser ausgeräumten und intensiv bewirtschafteten Ecke der Welt aber nicht. Ganz bestimmt nicht. Ihr Deutschen habt das sterilste Land überhaupt! Weitläufige und ursprüngliche Feuchtgebiete sucht man bei euch leider vergebens."

Die Bekassine schüttelt sich angewidert, fügt aber noch schnell versöhnend hinzu: "Es soll aber auch noch Verwandte hier in Ostfriesland geben, von der Seitenlinie meiner Urgroßmutter väterlicherseits, insgesamt nur wenige, aber meine Mutter hat mir das mal erzählt. Wo genau sie leben, weiß ich aber nicht. Jedenfalls sind es jetzt deshalb nur noch wenige, weil die meisten dieser Verwandten nach dem politischen Umbruch in den einst sozialistischen Staaten in den Osten rübergemacht haben, weil dort eben bis heute paradiesische Zustände für uns und viele andere Tiere herrschen."

Bei uns Menschen war das genau umgekehrt, überlege ich so nebenbei, und nach einem Moment der Stille kehren meine Gedanken zum Ausgangspunkt zurück: "Ich meine, wie wäre es gelaufen, wenn einer von denen mit ihm hätte arbeiten müssen? Dauerhaft, wohlgemerkt. Ich will es dir sagen: Sie hätten sich früher oder später die Rübe eingehauen. Eher früher. Ganz bestimmt. Einer hatte mal für einige Wochen das fragwürdige Vergnügen, weil er seinerzeit neu war. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie er gejammert und geflucht hat. Den bring ich um und so weiter. Doch kaum war er aus der Schusslinie, interessierte ihn das alles nicht mehr. Rückgrat - Fehlanzeige. Zumal es sich um einen Kollegen handelt, der ein etwas entrücktes Verhältnis zur Wahrheit hat, der sich schon in seiner Probezeit einiges zu Schulden hat kommen lassen, richtige Kalauer, aber der braucht auch künftig nichts zu befürchten, weil er protegiert wird. Von oben. Vitamin B, du verstehst?"

Der Langschnabel nickt zustimmend, und ich kehre zu meinem eigentlichen Feindbild zurück.

"Oft habe ich mich gefragt, wie ein Mensch so werden kann. Welche Form der Sozialisation mag da eine Rolle gespielt und am Ende alles verpatzt haben. Nicht selten ist die Ursache eine einfache, und wahrscheinlich hat man ihn im Schulsport immer als letzten in die Fußballmannschaft gewählt oder sogar gleich komplett aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen. Eine andere Erklärung will mir nicht einfallen. Eines aber ist gewiss. Ich habe einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt. Es wird nie wieder jemanden geben, der es so lange mit diesem ewig stinkenden Soziopathen aushalten wird. Nie wieder, darauf verwette ich meine Mutter." 

Sorry, Mama, denke ich noch schnell, das war jetzt aber wirklich ungerecht.



Die Bekassine wirkt ratlos.

"Soll ich dir eine wahre Begebenheit erzählen? Etwas ganz anderes jetzt?"

"Schieß los!"

"Ich war im letzten Winter in Florida. In so einem Feuchtgebiet kamen mir zwei Pickups entgegen und hielten auch noch neben mir. Der Fahrer des ersten Fahrzeuges fragte mich etwas, ich weiß aber jetzt nicht mehr, was das war, doch konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, dass die ganze Ladefläche mit deinen Artgenossen (seit einigen Jahren sind es eher Cousinen) gefüllt war. Alle tot. Eine Wagenladung Bekassinen! Und als sie weiterfuhren, entdeckte ich dasselbe auf der Ladefläche des zweiten Trucks. Zwei Wagenladungen Bekassinen! Ich wollte das auch knipsen, so aus dem Ärmel, doch leider hielten sie kein zweites Mal."

Die Bekassine wird etwas blass um den langen Schnabel.

"Nochmal, ich erzähle dir das, weil eben nicht alle Menschen so wie ich sind. Florida oder Frankreich, das ist kein Unterschied. Und selbst hier in Deutschland musst du immer auf der Hut sein, verstehst du das?"

"Ich werde auf mich aufpassen, versprochen."

"Weißt du, ich überlege oft, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich meine, solche Gedanken macht er sich bestimmt nicht. Er kennt keine Selbstzweifel, denkt nicht über sein eigenes Handeln nach. Mit der Brechstange setzt er seine Interessen durch, mit brachialer Gewalt, wenn es sein muss, und ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen. Die Meinung anderer interessiert ihn nicht die Bohne. Für ein Antiaggressionstraining könnte es ganz bestimmt keine ungeeignetere Person geben. Alle sollen nach seiner Pfeife tanzen. Von Diplomatie hat er noch nie etwas gehört. Also, trifft mich Schuld? Natürlich nicht, denn ich bin zu jedem freundlich, jeder hat mindestens eine Chance verdient. Wohl auch zwei oder drei. Wären alle Menschen so wie ich, gäbe es keine Kriege. Aber ich gebe zu, dass mir genau so etwas wie jetzt in dieser Kaschemme schon einmal passiert ist. Und so könnte man meinen, es liege eben doch an mir. Damals hatte ich zusammen mit einer sympathischen Kollegin in einem Labor bei Osnabrück angefangen, in dem schon zwei Idioten auf uns warteten. Die Arschlöcher von oben, also jene, die mein anderer Kollege erwähnt hatte. Und obwohl ihr Mann zum damaligen Zeitpunkt sterbenskrank war, war die neue Kollegin immer gut drauf. Doch bereits nach eineinhalb Jahren meinte sie zu mir: Edgar, du bist ein lieber Kerl, aber mit den beiden anderen will und kann ich einfach nicht mehr arbeiten. Ich kann die beiden nicht mehr ertragen. Ganz bestimmt nicht. Die können nur jammern, nörgeln, Fehler hinterhertragen und schlecht über andere reden. Die sind so unglaublich krank. Kurz. Sie bewarb sich bei einer Firma vor ihrer Haustür und bekam den Job am Ende leider auch. Okay, ich gönnte ihn ihr, zumal sie auch immer sehr weit fahren musste. Fortan war ich allein mit zwei wirklich geistesgestörten Menschen, einer Oma und einem mutmaßlichen Kinderschänder, und ich habe das noch sage und schreibe sechs oder sieben Jahre ausgehalten! Das muss man sich mal vorstellen. Anscheinend sind meine Nerven doch stabiler, als ich es mir immer vorgestellt habe. Aber eben nicht stabil genug, wie ich jetzt weiß. Schließlich geht kein Schwein freiwillig in die Arbeitslosigkeit...", ich gerate ins Stocken, korrigiere mich dann sofort: "Quatsch, es gibt diese vielen Menschen, die einfach so ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, ohne jemals einer geregelten Arbeit nachzugehen. Sie machen das einfach. Sie finden das völlig normal. Und diese Kinder bekommen dann wieder Kinder, die sich früher oder später dann auch vermehren. Das nimmt einfach kein Ende. Äh, was wollte ich eigentlich noch sagen?"

Abermals muss ich kurz überlegen: "Ach ja, der kleine Crash, den ich da am Tag meines Abganges verursacht habe, ist nur deshalb passiert, weil meine Nerven bereits vorher und über Monate überstrapaziert waren. Sie lagen blank. Ich war einfach nicht mehr ich selbst. Wenn ich auf Hundertachtzig bin, mache ich tatsächlich Fehler, denke nicht mehr richtig nach. Aber ist das nicht einfach nur menschlich? Ist das bei anderen etwa anders? Jedenfalls war dieses Missgeschick nicht die Ursache für meine Flucht, lediglich der Auslöser, der irgendwann kommen musste. Die üble Ursache ist mir viereinhalb Jahre gegenübergesessen!"

Kurze Pause des Nachdenkens.

"In diesem Augenblick fällt mir tatsächlich noch ein, was ich falsch gemacht habe. Gleich am allerersten Tag hätte ich ihm mal so richtig was an die Glocke hauen sollen. Mit einem Knüppel, weil ich ihn ja nicht berühren mag! Ich meine, andere hätten tatsächlich schon nach kurzer Zeit zugeschlagen. Ich aber bin einfach still und leise gegangen, weil Gewalt selbst dann, wenn sie sinnvoll erscheint, gegen meine Prinzipien verstieße. Ich bin einfach nicht so. Ich will mich hier jetzt nicht zum Helden verklären, der bin ich ganz bestimmt nicht, aber das, du süßer Vogel, ist wahre Größe. Nur so kann man sich von solchem Gesocks abgrenzen."

Letzte Pause.

Dann: "Meine Fresse, wann hört dieser verfickte Regen endlich auf. Ein kurzer, meinetwegen auch heftiger Schauer hat was Anregendes. Ihr Vögel badet dann sogar ganz gern, aber Dauerregen zeitigt ausschließlich Lethargie. Keinen einzigen Vogel habe ich seit meiner Ankunft an diesem Morgen gehört. An klaren Tagen und vor allem in klaren Nächten ist der Himmel hier immer erfüllt von den Rufen zahlloser Limikolen. Bei Dauerregen aber seid ihr wie Menschen, ihr sagt nichts und harrt aus, ihr hofft darauf, dass es ein baldiges Ende geben möge."


Der Bekassine fällt nichts ein.

Also wieder ich: "Ich muss dir jetzt mal ein Lob zollen! Dein Gefieder ist total hübsch. Es hat was Schimmerndes. Es ist eben etwas anderes, dich aus der Nähe zu beobachten statt mit einem Spektiv aus großer Distanz. Diesen Tag mit dir werde ich nie vergessen. Es war mir eine Ehre!"

"Ich kann dieses Kompliment nur zurückgeben, also bis auf das schimmernde Gefieder vielleicht. Und ich wünsche dir alles erdenklich Gute für die Zukunft."

Die Bekassine schleicht zurück ins Pflanzengewirr, so wie es für Bekassinen typisch ist. Sie sind immer auf Deckung bedacht und fliegen dann völlig unerwartet vor einem auf, weil man sie aufgrund ihres kryptisch gezeichneten Gefieders grundsätzlich nicht vorher entdecken kann. Ich konnte das auch an diesem Tag mehrfach beobachten, wenn sich Kühe oder Schafe geräuschvoll näherten, ohne dass der Vogel sie sehen konnte. Die Bekassine lief schnell in die Vegetation, drehte sich mit dem Schnabel zur Abflugschneise und blieb dort regungslos stehen, bis die "Gefahr" vorüber war:










This picture shows how Common Snipes hide well camouflaged and absolutely motionless in dense vegetation if approached by human or a predator (in this certain case just few sheep came along). Note the posture (especially the legs), which is comparable to a Hare in his depression - always ready to start!

Nach etwa zweieinhalb Stunden verabschieden wir uns dann tatsächlich und endgültig voneinander, weil der Regen mit der Zeit stärker und das Licht immer schwächer wird. 

Anderes Thema: Die Kühe auf der Weide gingen immer gerade dann ins Wasser, wenn ich entweder gespannt auf Vögel wartete oder aber bereits welche vor meinem Tarnzelt standen:

Cattle (ISO 3200!) tried to walk Jesus-like on the water surface - but in the end failed ruefully ;-)

Und sie kamen zu meinem Tarnzelt, schnauften lautstark und beträufelten es schließlich mit ihrem klebrigen Speichel. Und wenn sie dann alles weggescheucht hatten, zogen sie von dannen. Ich meinte dann immer ein zufriedenes Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen ;-)

Die bereits fast wieder versenkte Schlammfläche, auf der ich das hier wiedergegebene Gespräch an einem sehr frühen und sehr regnerischen Morgen aufzeichnen konnte, sieht übrigens so aus. Das Tarnzelt befindet sich knapp außerhalb des linken und unteren Bildrandes:

Mudflat at Wybelsumer Polder - habitat of the resting Common Snipe shown in the almost perfect images above

Fazit: Wenn ich auch noch nicht annähernd weiß, wie es für mich weitergehen wird, so kann ich doch immerhin feststellen, dass ich im Falle meines Verbleibes in dieser unsäglichen Firma keines der hier gezeigten Bilder hätte machen können. Und das wäre doch wirklich schade gewesen!

* Um dem Ganzen einen aktuellen Touch zu geben, schreibe ich heute ausnahmsweise mal im Präsens.