wilde perspektiven

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Freitag, 1. November 2013

Nach dem Sturm ist vor dem Sturm

Christian war sein Name. Ein Orkantief, wie es sie eigentlich immer mal wieder gibt. Vor allem im Herbst. Und vor allem hier an der Küste. Doch Christian war irgendwie auch anders. Stärker als seine Vorgänger, ein wenig wie gedopt. 

Am vergangenen Montag schaute Christian also bei uns vorbei. An den Tagen davor war es bereits recht stürmisch gewesen, doch bis zum Montagmorgen legte der Wind noch eine gute Schippe drauf. Weil es an diesem Tag bis zum Mittag auch sehr dunkel und regnerisch blieb, gab es für mich zunächst keinen Grund, die Wohnung zu verlassen.

Doch dann klarte es auf:













On 28th of October 2013 cyclone "Christian" (the so called "St Jude storm" in the UK) hit the German coast seriously. Windspeeds up to 191 km/h were recorded on Helgoland and Borkum - reportedly the highest ever for the German coast.

Schnell packte ich meine Sachen zusammen und fuhr zum Rysumer Nacken. Eigentlich war alles wie an vielen anderen Tagen in diesem Herbst zuvor auch. Doch kurioserweise konnte ich auf dem Mahlbusen an der Knock keine Kitesurfer entdecken. Auch keine Angler am Ufer. Und jene Menschen mit einem normalen Surfbrett waren offensichtlich auch komplett zu Hause geblieben. Es war ein erstes Zeichen dafür, dass mit dem Wind etwas nicht stimmen konnte.

Ein Wohnmobil, das mir anschließend in extremer Schräglage auf der Zielgeraden Richtung Emsstrand entgegenkam, ließ mich staunen!

Ich parkte auf einem der Schotterplätze neben dem Restaurant Strandlust, doch als ich die Tür meines Wagens öffnen wollte, verspürte ich heftigen Gegendruck von außen. Schließlich aber gelang es mir, ins Freie zu kommen, und spätestens jetzt vermutete ich, das dieser Sturm, dessen böige Winde aus Südwest bliesen, einer der stärksten meines Lebens war.

Mühsam setzte ich Schritt für Schritt. Ich entschied mich für die schwierigere Aufgabe und nahm den asphaltierten Weg direkt am Wasser entlang. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte es mir nicht gelingen, selbst darüber zu entscheiden, in welche Richtung ich gehe. Immer wieder geriet ich aus der Spur, wenn eine Böe mich packte und in eine andere Richtung trieb. Zweimal stürzte ich sogar etwas tölpelhaft zu Boden! Ich war wirklich froh darüber, dass außer mir niemand vor Ort war ;-)

Am Strand bekam ich dann Sand in den Nacken und in die Ohren geblasen. Doch zum ersten Mal in meinem Leben ging das auch mit heftigem Schmerz einher. Trotzdem schaffte ich es bis zum Ende des Strandes, allerdings ohne auch nur einen einzigen rastenden Vogel entdeckt zu haben. Nur durchziehende Sturmmöwen gab es in großer Zahl zu sehen. Ich kehrte um, und jetzt blies mir der Sand volle Kanne ins Gesicht. Immer wieder musste ich stehen bleiben, mich abwenden und die Hände schützend vor die tränenden Augen halten, wenn der Wind zu stark und böig wurde. Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass dieser Sturm der stärkste meines Lebens war. Er ließ geradezu seine Muskeln spielen! Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt, doch auf der anderen Seite hatte ich ja den größten Teil meines Lebens fernab der Küste verbracht. Es konnte in der Vergangenheit also durchaus Schlimmeres gegeben haben.

Wieder am Anfang des Strandes angekommen machte ich eine Pause. Die betonierte und windabgewandte Seite der Uferbefestigung ließ es sogar zu, dass ich meine Kamera aus dem Rucksack kramen konnte, um endlich auch ein paar Bilder zu machen.

Sandregenpfeifer nutzten jede sich bietende Gelegenheit, sich vor dem Wind zu verstecken:



Common Ringed Plover looking out for wind protection

"Komm hierher! Hier kann man's aushalten!"

Drei auf einmal:

Das sollten die einzigen Vögel an diesem Tag bleiben! Selbst die Dohlen am Restaurant wollten sich mir nicht zeigen.

Schwere See so ganz ohne Schiffsverkehr:

Doesn't look like low tide...

Die Festigkeit diverser Pflanzenstängel wurde auf eine harte Probe gestellt:











Nochmal die kochende See:

Es war nicht einfach, überhaupt ein Bild hinzubekommen, weil die Linse bereits nach wenigen Sekunden mit salzigem Wasser bedeckt war.

Hier zunächst ein Bild noch ohne Tropfen auf der Linse:

Beim folgenden aber war die Sicht schon nicht mehr ungetrübt:


Für mich gab es dort am Strand nichts mehr zu tun. Ich schaffte es bis zum Auto und schloss erleichtert die Tür. Undefinierbare Teile flogen durch die Luft, ein Sonnenschirm lag zerfleddert in den Rosen, eine umgekippte Mülltonne, die sich zuvor übergeben hatte, unmittelbar daneben. Nicht erst jetzt war ich von den Naturgewalten an diesem Tag tief beeindruckt, aber es sollte noch schlimmer kommen, denn als ich den Mahlbusen erreichte, hing dort dieser wuchtige Container samt daran befestigter Toilette angezählt in den Seilen:

This container crossed the road without any Human support!

Ursprünglich stand er auf der anderen Straßenseite und somit unmittelbar am Emsufer. Ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes hatte ihn die Wochen zuvor als Büro genutzt und hier die Papiere der Fahrer jener LKW, die die Gassco-Baustelle ansteuern wollten, kontrolliert. Ich hoffe, er hatte an diesem Tag frei.

Von der anderen Seite aus fotografiert:

Leitplanke und auch Schild verhinderten hier einen Absturz des Containers in den Mahlbusen, der so ausschaute:

Keine Menschenseele weit und breit!

Ich fuhr nach Hause, wo mich ein paar zerschepperte Schieferplatten, die vom Dach oder Giebel stammen mussten, auf dem Weg zur Eingangstür erwarteten. Eine davon würde reichen, dachte ich beiläufig. Zur falschen Zeit am falschen Ort und so weiter. Dass dieser Sturm tatsächlich Menschenleben eingefordert hatte, erfuhr ich erst am nächsten Tag. In Pressemitteilungen und Radionachrichten war von fliegenden Kindern und Katzen die Rede! Eine der bekannten Zwillingsmühlen in Greetsiel hatte es ebenso erwischt wie zahllose alte Bäume und Häuser in Emden. Und ja, dieser Orkan hatte in Böen die höchsten jemals in Deutschland gemessenen Windgeschwindigkeiten erreicht: 191 Stundenkilometer, ermittelt auf Helgoland und laut NDR auch auf Borkum!

Eine von mir etwas abgewandelte und sinnentfremdete Fußballweisheit bringt es auf den Punkt: Nach dem Sturm ist vor dem Sturm. Ich bin schon gespannt darauf, was sich dieser Herbst noch alles einfallen lässt...

Zwei Tage später, das Wetter hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt, ohne dass der Wind aber zum Erliegen gekommen war, besuchte ich erneut den Emsstrand. Der zutrauliche Steinschmätzer, den ich schon im letzten Bericht vorgestellt und am Sturmtag ein wenig vermisst hatte, lief mir am Ende des Strandes quicklebendig entgegen.

"Moin, mein Junge!" rief ich ihm zu: "Hast ja anscheinend alles gut überstanden!"

Das hatte er tatsächlich:

Northern Wheatear

Etwas näher:

Ich gab ihm was Leckeres zu essen:

Und er zeigte sich sehr, sehr hungrig:

So niedlich und so vertraut:














Wenn er gerade mal nicht aß, dann stand er irgendwo herum, immer im Windschutz kleiner Erhebungen (den Eimer aus dem letzten Beitrag konnte ich übrigens nicht wiederfinden):

Ein allerletztes Bild von diesem Vogel, der den Strand nach seinem einwöchigen Aufenthalt in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag verlassen und seine Reise nach Afrika fortgesetzt hat:




Am selben Tag kam es zum ersten Mal in diesem Herbst zu starkem Durchzug der Wacholderdrossel, vielleicht ausgelöst durch den plötzlichen Temperatursturz um etwa zehn Grad Celsius:

several flocks of migrating Fieldfares

Die Vögel stammen aus Skandinavien. Bei uns halten sie sich oft mehrere Wochen auf. Ein kleiner Teil verbringt hier zu Lande sogar den kompletten Winter, doch für das Gros dieser Tiere stellt Ostfriesland lediglich eine Transitstrecke dar.


Diese Art ist der so genannte und berühmte Krammetsvogel, der noch vor gut hundert Jahren in großer Zahl gefangen und auch in deutschen Küchen zubereitet wurde. Schlingen aus Rosshaar, die so genannten Dohnen, wurden mit Lockfrüchten versehen und in die Büsche gehängt. Konnten die hungrigen Vögel nicht widerstehen, gerieten sie beim Versuch, an die Köder zu gelangen, in die Schlingen, wo sie sich dann qualvoll zu Tode strangulierten. Allmorgendlich wurden diese Fangplätze, die so genannten Dohnenstiege, von den meist jugendlichen Jägern kontrolliert und in der Regel reiche Beute nach Hause getragen.   


Das ist Gott sei Dank längst Vergangenheit! Zumindest in Mitteleuropa, während diese Fangmethode neben einigen anderen im Mittelmeerraum nach wie vor eingesetzt wird - trotz geltenden EU-Rechts, das das Töten von Singvögeln eigentlich untersagt!

Insgesamt konnte ich an zwei Tagen (Mittwoch und Donnerstag) 4600 Wacholderdrosseln auf dem Rysumer Nacken zählen, die allesamt nach Süden zogen und an der Knock den Emsüberflug wagten:

Die meisten anderen Drosselarten ziehen nahezu ausschließlich nachts, doch die Wacholderdrossel eben bei Tage. Wenn dann alle paar Minuten ein kopfstarker Trupp ganz dicht und rufend an einem vorbeifliegt, dann ist das schon etwas ganz Besonderes. Vogelzug hautnah. Für mich ist das eines der beeindruckensten Phänomene, die man überhaupt erleben kann. Neben Orkanböen vielleicht.

Die meisten Menschen aber nehmen es nicht einmal wahr:

Immer wieder fielen Trupps in einige gut platzierte Weißdornbüsche ein:

Wenn also die Wacholderdrosseln einfliegen, ist es um die Restbestände diverser Früchte schnell geschehen. Jedenfalls bleibt für mögliche Seidenschwänze oder Hakengimpel kaum etwas übrig...

Das folgende Bild zeigt einen Schwarm an der Knock, wo sich die Vögel auf einer Weide den Bauch mit Regenwürmern und sonstigem Getier vollschlugen, bevor es für sie über den an dieser Stelle etwa drei Kilometer breiten Fluss nach Holland ging:

Der Donnerstag, Tag eins ohne den Steinschmätzer, servierte mir die ersten Sanderlinge in diesem Herbst. In Emden ist der Emsstrand der einzige Ort, an dem man diesen immer so adrett wirkenden Vogel im Winterhalbjahr regelmäßig erwischen kann:

Sanderling

Im Gegensatz zu anderen Strandläufer-Arten meidet der Sanderling "schmutzige" Orte wie Schlamm- und Schlickflächen. Er sucht nahezu ausschließlich an Sandstränden nach Nahrung, wo das Federkleid immer schön sauber bleibt und der Vogel den anrauschenden Wellen in geschickten Manövern ausweicht und immer wieder stehen bleibt, um winzige Nahrungstiere aufzunehmen. Wegen seines hohen Anspruchs bezüglich der Rastplätze wird man den Sanderling in Leer wohl nur in Ausnahmefällen zu Gesicht bekommen, wenn überhaupt, und im Holter Hammrich ganz bestimmt niiiiemals ;-)

Hier versteckte sich ein Vogel hinter dem anderen:


Weil es an diesem Morgen sehr finster war, hat es nicht einmal für einen klitzkleinen Lichtreflex auf dem dunklen Auge gereicht:


Und wenn die Sanderlinge mal nicht am Spülsaum umhertrippelten, dann ruhten sie gemeinsam mit drei Sandregenpfeifern im nördlichen Teil des Strandes:

Zu guter Letzt gibt es jetzt noch zwei Arten, die ich auf dem Friedhof Tholenswehr fotografieren konnte.

Der Kleiber ist in Emden ein spärlicher Brutvogel, ganz einfach deshalb, weil er auf alte Bäume angewiesen ist. Die aber gibt es in Emden kaum. Lediglich auf diesem Friedhof und vor allem auf den einstigen Wallanlagen kann man den Kleiber regelmäßig antreffen.

Dieser hier versteckte gerade irgendwas in einem toten Baumstamm:


Eurasian Nuthatch

Eine Schwanzmeise als Zugabe:

Long-tailed Tit

Der alte und große Friedhof ist für mich der wahre Stadtwald! Ich habe ihn erst vor kurzer Zeit für mich entdeckt, bin monatelang auf dem Weg zu meiner Wohnung einfach am Hinweisschild vorbeigefahren. In den letzten Wochen aber habe ich mich dort ein ums andere Mal aufgehalten, weil man dem steifen Wind im Schutz der alten Bäume wenigstens für eine Weile aus dem Weg gehen kann. Und wer weiß: Vielleicht gibt es dort eines Tages auch einmal einen ganz besonderen Vogerl zu entdecken ;-)

Das letzte Bild dieses Beitrages illustriert, dass trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit nach wie vor grünes Laub an den Bäumen hängt: