wilde perspektiven

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Donnerstag, 15. Januar 2015

Holz vor der Hütt'n

Das Leben eines Alpenstrandläufers verläuft innerhalb eines recht engen Korridors und nicht so verschnörkelt wie unseres oder etwa die in früheren Jahrhunderten vor allem für amtliche Bekanntmachungen eingesetzte so genannte Kanzleischrift.

Merksatz: Schnörkel können alles bunter und schöner machen, lenken aber vom Wesentlichen ab.

Im Falle der Schrift vom Inhalt des Textes, beim Vogel von seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich der Erhaltung seiner Art. Deshalb fahren Alpenstrandläufer trotz ihres Namens nicht in den Skiurlaub, frönen weder der Naturfotografie noch einem hässlichen Terrorismus (traurige Dinge passierten da wieder einmal), sie stehen nicht vor dem Kühlregal eines Supermarktes, um aus einem überbordenden Angebot einen ganz bestimmten Joghurt auszuwählen, und sie schauen sich auch kein Heimspiel des einzigartigen VfL Osnabrück an.

Für all diese Dinge fehlt ihnen schlicht die Zeit.

Dunlin - painted by Rembrandt van Rijn several centuries ago

Wir hingegen brauchen uns um die Erhaltung unserer Art keine Sorgen zu machen und können und müssen immer und überall über Sinnvolles und Sinnfreies entscheiden. Ob sich diese Entscheidungen aber positiv oder negativ auf unser Leben auswirken, ist im Vorfeld oft nicht erkennbar.

"Risiko", würde Wim Thoelke wohl sagen.

Für viele Menschen in armen Ländern wäre die Sache mit dem Kühlregal ein echtes Luxusproblem! Religiöse, politische sowie geografische Faktoren bestimmen den Alltag eines großen Teils der Weltbevölkerung. Wird z. B. in Mali ein Kind geboren, ist sein Leben quasi schon vorbestimmt, ohne dass dafür irgendein erfundener oder eingebildeter Gott verantwortlich wäre. Eine Qual der Wahl kennen die meisten Menschen dort jedenfalls ganz bestimmt nicht.

with Sanderling

Das alles bedeutet natürlich nicht, dass zum Beispiel ein Alpenstrandläufer überhaupt keine Entscheidungen treffen müsste! Man könnte sich zum Beispiel fragen, warum er sich ausgerechnet für diesen und nicht für jenen Hochwasserrastplatz entscheidet, warum er meinen geilen Mehlwürmern immer und immer wieder die Naturkost im Watt vorzieht, warum er sein Bad heute um zehn und morgen bereits eine Stunde früher nimmt und schließlich, warum ein bestimmtes Weibchen sich für ein ganz bestimmtes Männchen entscheidet.

Letztere Frage ist wahrscheinlich bis heute nicht beantwortet. Für uns Menschen sehen schließlich alle Alpenstrandläufer gleich aus. Ordentlich Holz vor der Hütt'n oder ein tiefergelegtes Manta-Cabrio spielen bei der Partnerfindung dieser Art jedenfalls sehr wahrscheinich keine übergeordnete Rolle.


flock of Dunlin 

Der Alpenstrandläufer ist ein Brutvogel der Arktis, zum Teil aber auch gemäßigter Breiten. In Deutschland zum Beispiel balzt und brütet er (südliche Unterart C. a. schinzii) nur noch auf der Insel Kirr (Mecklenburg-Vorpommern), sofern das überhaupt noch aktuell ist. Früher war er auch ein verbreiteter Brutvogel der nordwestdeutschen Tiefebene, z. B. in der Dümmer-Niederung letztmalig in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in Ostfriesland Anfang der achtziger Jahre auf Spiekeroog (Quellen: Die Vögel Niedersachsens sowie Die Vögel des Dümmer-Gebietes).

Für Emden bestand letztmalig 1972 Brutverdacht eines Paares im Petkumer Deichvorland (Quelle: Brutvogelatlas Stadt Emden von Klaus Rettig).

Im Gegensatz zu Amsel und Rotkehlchen ist der Alpenstrandläufer kein Vogel der Ortschaften, und er besucht somit auch nicht das Gartl, irgendwo an einem österreichischen Teilabschnitt der schönen Donau. Alpenstrandläufer sind Vögel der offenen und weiten, vor allem aber der ursprünglichen Fluss- und Seemarschen, wie sie einst vielerorts in Norddeutschland existierten. Deichbau und Entwässerung erschlossen zwar dem Menschen neuen und sicheren Lebensraum, doch gingen diese nachhaltigen Landschaftsveränderungen zu Lasten einer Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten, die nach und nach aus unserem unmittelbaren und weiteren Umfeld verschwanden.

Der Alpenstrandläufer ist nur ein Beispiel dafür.

with Sanderling as next images

Verzichten auf seinen Anblick aber muss man gerade hier in Ostfriesland nicht, ist der Alpi, wie er von Vogelguckern häufig in Kurzform genannt wird, doch nach wie vor ein sehr häufiger Gastvogel im Wattenmeer (nordische Unterart C. a. alpina). Riesige Schwärme, nicht selten bestehend aus tausenden Individuen, halten sich beinahe ganzjährig im Watt zwischen Inseln und Festland auf.

Wenn sie plötzlich auffliegen und eine Wolke aus kleinen Vögeln bilden und dann jeden abrupten Schwenk auf rätselhafte Weise und wie auf ein geheimes Kommando hin gleichzeitig vollziehen, man mal die helle Unterseite, dann wieder die dunklere Oberseite der Vögel zu Gesicht bekommt, dann ist das eines dieser unglaublichen Naturschauspiele, die nicht nur bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollten.

Doch wieso heißt der Alpenstrandläufer eigentlich Alpenstrandläufer?

Einen unpassenderen Namen könnte ich mir für diesen knuffigen Vogel jedenfalls kaum vorstellen. Dass einzelne Individuen auf dem Zug mal eine Rast am Ufer eines der zahlreichen Voralpenseen einlegen, ist klar, doch handelt es sich dabei ganz bestimmt nicht um den klassischen Lebensraum dieser Art. Die Zahlen dort sind doch verschwindend gering im Vergleich zum norddeutschen Wattenmeer und ähnlichen Gebieten in anderen Staaten. Vielleicht aber hat ihn der Erstentdecker oder -beschreiber tatsächlich irgendwo in den Alpen beobachtet, für eine klassische Zutat des Hochgebirges gehalten und etwas voreilig entsprechend benannt.

Vielleicht ist es aber auch so, dass der kleine Vogel mit dem langen schwarzen Schnabel ein ausgezeichneter Jodler ist wie einst Margot und Maria Hellwig es waren (oh Gott, ich drifte ab...). Nichtsdestotrotz habe ich noch nie einen gebirgstypisch singenden Alpenstrandläufer in Ostfriesland gesehen, obwohl hier ganz bestimmt kein Jodelverbot herrscht.

Ostfriesen sind nämlich nicht nur in dieser Hinsicht tolerant.

G'schafft!