wilde perspektiven

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Freitag, 23. Januar 2015

Zwergmöwe im Paradies

Es gibt Vogelarten, die man einfach besonders mag. Das ist subjektiv und hat eigentlich nichts zu bedeuten.

Die Zwergmöwe ist für mich so ein Kandidat! 

Vor allem Altvögel im Schlichtkleid sind einfach nur megahübsch. Die rußgraue Flügelunterseite, der dazu kontrastierende schneeweiße Flügelhinterrand, das eisgraue Gefieder der Oberseite, die Kopfzeichnung und vor allem die korallenroten Füße machen diesen Vogel zu einem meiner zahllosen Favoriten.

Leider habe ich so eine adulte Zwergmöwe im Schlichtkleid noch nie gesehen, kenne sie aber immerhin von Bildern.

In Ostfriesland ist mir diese begehrte Art erst wenige Male begegnet. Immer waren es junge Individuen auf dem Wegzug im Herbst, und immer handelte es sich um Zwergmöwen, die so weit draußen auf der Ems nach Südwest düsten, dass ich sie nicht einmal fotografieren konnte.





Little Gull – especially in this image looking a bit like a Ross's Gull of same age

Am Nachmittag des vergangenen Mittwoch (21. 1. 2015) stiefelte ich bei Hamswehrum den asphaltierten Weg zu Füßen des Seedeiches entlang. Mein Auto war bereits in Sichtweite. Für diesen Tag hatte ich keine größere Erwartungshaltung mehr, doch sollte es kurz vorm Ziel eben doch noch anders kommen.

Eine Möwe flog von hinten kommend über mich hinweg und weiter schnurstraks geradeaus. Immer wieder las sie Regenwürmer vom Asphalt auf, um dann schnell wieder Fahrt aufzunehmen und dem Wirtschaftsweg zu folgen.


Little Gull patrolling the road for Earthworms,...

Wegen seiner auffallend geringen Größe und der markanten Zeichnung auf den Oberflügeln konnte ich den Vogel auch von hinten als Zwergmöwe im zweiten Kalenderjahr bestimmen und rasch die ersten Belegfotos anfertigen. Und damit wäre ich schon fast zufrieden gewesen.

Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Zwergmöwe nach etwa einem Kilometer umkehren und dann auf mich zufliegen würde. Sie tat es und gab mir eine zweite Chance. Diesmal war ich besser vorbereitet. Ich schoss die ersten brauchbaren Bilder. 

Doch auch dabei sollte es nicht bleiben!
































Denn inzwischen bemerkte ich, dass sich der wenig scheue Vogel auf einen bestimmten Teilabschnitt des Weges als Suchgebiet festgelegt hatte. Da die Distanz zwischen den Endpunkten der Strecke etwa zwei Kilometer betrug, blieb mir die Zeit, zu meinem Wagen zu laufen und in die Mehlwurmschale zu greifen. 

Kaum hatte ich die Käferlarven auf den Weg geworfen, da sah ich die Zwergmöwe auch schon wieder gemütlich auf mich zufliegen. Ich entfernte mich diskret und beobachtete aus sicherer Distanz. Gespannt wie ein Flitzebogen war ich, als der Vogel über den Mehlwürmern zu rütteln begann und dann auch sofort runterging.

Punktlandung:

...but finally found my mealworms instead!

Während der Vogel die Regenwürmer noch im Fluge aufgenommen hatte, blieb ihm hier kaum eine andere Wahl als sich niederzulassen. Es gab ja nun auch keinen Grund mehr, weiter unnötig Energie zu verplempern und fliegend nach Nahrung zu suchen. 

Da kann man auch schon mal bequem werden und sich gleich mitten ins Essen setzen:
































Zwergmöwen-Gedanken: Wen ess' ich denn jetzt zuerst? Hmmmh, schmecken wahrscheinlich alle gleich. Vielleicht so: Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste, ene, mene, muh und raus bist du...

...oder vielleicht ene, mene, meck und du bist weg. Oder ene, mene, mack und weg bist du, zack. Nee, das ist doof. Peter hat ins Bett geschissen, gerade aufs Paradekissen, Mutter hat's geseh'n und du musst geh'n. Auch nicht so doll. Irgendwie retro. Jetzt habe ich's: Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt der Haarmann auch zu dir, mit seinem kleinen Hackebeilchen macht er Leberwurst aus dir (der Hauch eines Lächelns huscht über den Schnabel der Zwergmöwe, verschwindet aber auch sofort wieder, Anm. Beobachter). Geht auch nicht, ist ja schon fast pathologisch. Ich hab's jetzt aber wirklich. Ich bin ja in Ostfriesland: ene, mene, micken, macken, eene Fru, de kunn nich kacken, nimmt 'n Stock, bohrt 'n Loch, schit 'n halben Heringskopp. Lustig, aber irgendwie auch blöd. Und unglaublich unrealistisch und unpassend. Ich meine, was hat das jetzt damit zu tun, wen ich zuerst essen soll? Mensch, das ist aber auch echt schwierig. Warum nimmt mir keiner diese Entscheidung ab? Warum bin ich ganz auf mich allein gestellt? Und... (ging eine ganze Stunde so, weitere Anm. Beobachter)


Mir wurde das jetzt aber zu langweilig, weil ich doch auch noch ein paar Flugaufnahmen machen wollte. Die immer wieder auftauchenden Radfahrer nahmen mir schließlich die Drecksarbeit ab und scheuchten die Zwergmöwe auf. 

Eigentlich kurios, denn der weiße Vogel sollte auch für einen Radler schon aus größerer Distanz erkennbar sein. Ein nicht mehr ganz schlanker Fotograf noch viel eher, doch viele Fahrräder haben heutzutage anscheinend keine Bremsen mehr.

Egal, ich nutzte meine Chance und platzierte mich jetzt mitten auf dem Weg und direkt neben den Mehlwürmern, sodass die Möwe die Futterquelle nicht mehr ansteuern konnte. Was sich nun abspielte, musste auf potenzielle Zuschauer einen etwas merkwürdigen Eindruck gemacht haben, denn die Zwergmöwe umflog mich nun in einem sehr engen Radius!


Ich drehte mich mit, mit meiner Kamera in der Hand. Schnell wurde mir aber schwindelig, sodass ich mich schließlich darauf beschränkte, mit der Sonne im Rücken zu fotografieren und einfach still stehen zu bleiben.

Das war dann auch die eindeutig bessere Herangehensweise:

Obwohl die Zwergmöwe eher flatterte als flog – sie erinnerte mich in diesem Punkt immer wieder an eine Fledermaus –, sollten am Ende doch zahlreiche Fotos unscharf sein. Weil ich aber nach sehr langer Zeit mal wieder eine komplette Speicherkarte gefüllt hatte, blieben zu meiner Freude doch noch einige gute Aufnahmen übrig.

Puh, wirklich Glück gehabt:

Doch schon nach wenigen Minuten bekam ich ein schlechtes Gewissen.

Denn jetzt begann die Zwergmöwe krächzend zu rufen, um mich auf ihre Ansprüche aufmerksam zu machen. Und im Grunde hatte sie Recht, denn wenn man schon einen Vogel anfüttert, dann sollte man ihm den Zugang zur Nahrungsquelle nicht plötzlich verwehren:


Kaum war ich auf Abstand, landete der kleine Gast auf der Straße.

Zwergmöwen im ersten Winter sehen fast genauso hübsch aus wie Altvögel im Schlichtkleid. 

Doch sind die Füße nur blassrot, und die Zeichnung auf dem Flügel und dem Steuer entspricht fast noch jener aus dem Jugendkleid. Das Kleingefieder auf Ober- und Unterseite aber ist bereits vermausert, und auch die Kopfzeichnung entspricht der einer adulten Zwergmöwe im Ruhekleid.

Sehr hübsch fand ich diesen leichten Roséton auf der Unterseite, der allerdings angesichts der schwankenden Lichtverhältnisse auf einigen Bildern nicht zu erkennen ist:


Wenn ich oben geschrieben habe, dass ich die Zwergmöwe auch von hinten sofort als solche erkennen konnte, dann ist das nicht ganz richtig. Denn es galt eine weitere sehr kleine und ähnlich gezeichnete Möwenart auszuschließen.

Vor vielen Jahren sah ich am Alfsee (Landkreis Osnabrück) eine kleine Möwe, die ich zunächst für einen Ausnahmegast aus dem ganz hohen Norden hielt. Der Schwanz war mir aus sehr großer Entfernung keilförmig erschienen und brachte mich auf die falsche Fährte. Ich rief jemanden an und meldete ihm in heller Aufregung eine Rosenmöwe im zweiten Kalenderjahr!

Kaum hatte ich aufgelegt, tauchte da plötzlich eine zweite "Rosenmöwe" im selben Kleid neben dem ersten Vogel auf. Meine Bestimmung konnte nicht stimmen, da war ich auf dem Holzweg. Gleich zwei Rosenmöwen am Alfsee – einfach absurd. Ich gebe zu, dass ich zu jener Zeit noch nicht wirklich mit den Kleidern der kleinen Möwen vertraut war. Umso fahrlässiger erscheint mir aus heutiger Sicht mein vorschnelles Urteil, aber auf der anderen Seite sind das die Momente, in denen man etwas lernt.

Von diesem Augenblick an habe ich mir immer die Zeit genommen, viel genauer hinzusehen und mit einer Diagnose zu warten. Fotos, gleich welcher Qualität, sind vor allem bei flüchtigen Begegnungen sehr hilfreich. Und ich finde überhaupt, dass jeder Beobachter möglichst alles von der Norm Abweichende in Bildern festhalten sollte, um eine Bestimmung bestätigen oder auch widerlegen zu können.

Jeder!

Na ja, in diesem Fall hier war die korrekte Diagnose keine echte Herausforderung. Der Vogel konnte mir kaum bessere Möglichkeiten einräumen, ihn als Zwergmöwe zu enttarnen. 


Ein Treckerfahrer kam vorbei und ermöglichte mir weitere Flugaufnahmen:




Die schwarze Markierung auf der Unterseite der innersten Armschwingen ist übrigens ein sicheres Bestimmungsmerkmal für die Zwergmöwe.


Krächz, krächz, krächz ist Zwergmöwisch und bedeutet: Verpiss dich! Aber ganz fix! Sonst...

Ja, ja, dachte ich nur, is' ja schon gut, ich mach' mich aus dem Staub.


Eine noch junge Zwergmöwe im Paradies:

Wer viel isst, der muss auch mal:

Der Vogel gab sich aber eher unbeteiligt und stierte absichtlich in eine andere Richtung:

Doch dann ein verstohlener Blick über die Schulter:

Das war ich nicht!

Schon klar, würde ich auch behaupten.


So sah der Futterplatz von oben aus:

temporarily Mealworms became Little Gull's only food source

Mit Regenwürmern wollte die Zwergmöwe übrigens nichts mehr zu tun haben. Ich versuchte immer wieder, die Mehlwürmer zu strecken wie ein Straßendealer das Heroin, aber der Vogel wählte geschickt aus und entschied sich ausnahmslos für die knusprigere Variante. Am Ende verzichtete ich darauf, weitere Regenwürmer zu suchen.


Und nach einer guten Stunde hatte die Zwergmöwe ihr Verhalten geändert. 

Jetzt flog sie nach jeder Mahlzeit ins Watt hinaus, um stets nach einer halben Stunde wieder zurückzukehren. 




Sie war immer so pünktlich, man könnte die Atomuhr der Physikalisch-Technischen Anstalt in Braunschweig nach ihr einstellen.

Der Flug Richtung Watt und Futterplatz unterschied sich deutlich vom etwas hilflos wirkenden Geflatter bei der Nahrungssuche.

Er war schnell und geradlinig:

Nach der Rückkehr des Vogels trieb ich es etwas auf die Spitze und blieb abermals bei den Mehlwürmern stehen:

Wieder umflatterte mich die Zwergmöwe ausdauernd:

Es war einfach lustig und unglaublich zugleich:

Schließlich rief der Vogel wieder, und ich machte ihm Platz.

Laaaaaandung:

Lästige Fakten: Die Zwergmöwe ist ein Vogel Osteuropas und Sibiriens. Sie brütet an Binnenseen vor allem in Russland, aber auch in Polen, Weißrussland und Finnland etc.

Viel interessanter aber ist ihr Vorkommen in der Neuen Welt.

Der erste Nachweis einer Zwergmöwe gelang in Nordamerika zwar bereits im Jahr 1819, doch erst 1962 konnte dort das erste Gelege gefunden werden. Seitdem stieg die Zahl der Feststellungen von Zwergmöwen in den USA an. Bis heute ist die Art sehr seltener Brutvogel im Bereich der Großen Seen, doch weiß man nicht, ob die Zwergmöwe schon immer in kleiner Zahl dort vorgekommen ist oder ob sie sich in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Kontinent neu angesiedelt hat. Immerhin ist ein in Schweden beringter Vogel im zweiten Kalenderjahr tot auf einer Straße in Pennsylvania aufgefunden worden (Quelle: The Cornell Lab of Ornithology).

Nordamerikanische Zwergmöwen überwintern einzeln oder in kleinen Gruppen an der Ostküste der USA, oft mit Bonapartemöwen vergesellschaftet. Osteuropäische ind skandinavische Populationen ziehen u. a. nach Südwest und tauchen so auch alljährlich und regulär in Deutschland auf. Vor allem in Schleswig-Holstein kann man zur richtigen Jahreszeit auch größere Trupps dieser kleinsten Möwenart bestaunen.

Die besten Chancen, einer (durchziehenden) Zwergmöwe zu begegnen, hat man in Ostfriesland wohl auf den Inseln, doch auch an den Hauener Kleipütten bei Greetsiel soll sie mehr oder weniger regelmäßig auftauchen. Ich selbst sah sie wenige Male auf der weiten Ems, immer einzeln oder zu zweit und ausnahmslos während des Wegzuges. 

Die Winterquartiere liegen wohl vor allem vor den Küsten Westeuropas, doch auch das IJsselmeer in den Niederlanden beherbergt in manchen Wintern tausende dieser Vögel.

In Ostfriesland aber tritt die Art in der kalten Jahreszeit nur selten auf. Dieser Januar-Nachweis einer zahmen und süßen Zwergmöwe bei Hamswehrum ist also immerhin ein halber Kracher, vielleicht nicht ganz so toll wie ein ebenso zahmer Wüstensteinschmätzer, aber deutlich spektakulärer als eine schnöde Silbermöwe.

Und deshalb gibt's jetzt ein Portrait vom Stargast:

so sweet





Hinsichtlich ihrer Nahrungssuche erinnert die Zwergmöwe sehr stark an die kleinen Seeschwalben der Gattung Chlidonias.

Sie flattert unermüdlich über weite Seen und Moorgewässer und liest im Fluge vor allem Insekten von der Wasseroberfläche auf. Und im Grunde hat sie sich in Hamswehrum genau so verhalten, wenngleich sie die Wasserfläche gegen einen asphaltierten Weg eingetauscht hat und die Insekten gegen Regenwürmer.


Diese Art der Nahrungssuche wiederum, also das Absuchen von Straßen nach Naktschnecken und Regenwürmern, kann man in Ostfriesland vor allem bei Sturm- und Lachmöwen beobachten. Im Flug, manchmal aber auch zu Fuß. Meist handelt es sich um Einzeltiere, die mal irgendwann darauf gekommen sein müssen, dass Straßen einiges zu bieten haben.

Die allermeisten Lach- und Sturmmöwen aber suchen auf eine sehr ähnliche Art und Weise Ackerflächen und Grünländereien nach Leckerbissen ab.


Flieg doch noch ein letztes Mal, du Zwergmöwe:

Ja, in die andere Richtung ging es auch:

Schließlich gingen meine Mehlwürmer zur Neige. Auf so große Vögel mit einem so großen Magen ist mein Vorrat im Auto einfach nicht ausgerichtet. Normalerweise locke ich damit eher Arten wie Hausrotschwanz oder Steinschmätzer vors Versteck.

Und so mancher Mehlwurm nutzt meinen Wagen auch als Freigehege und entzieht sich so einem vorschnellen Tod.

Komm, noch eine Landung:

Tja, irgendwann ist einfach auch die größte Gaudi vorüber.

Immer fällt es einem schwer, aber man muss auch loslassen können.

Die Zwergmöwe machte den Abflug, und ich fuhr nach Hause:

Au revoir, mon ami:






















Wem das gefallen hat, der kann auch mal etwas ins geile Gästebuch schreiben. Heimlich gucken ist doof ;-)