wilde perspektiven

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Samstag, 10. November 2018

Ausflug nach Schillig

Wenn man jeden Tag in denselben Gebieten unterwegs ist, um nach mehr oder weniger außergewöhnlichen Vögeln zu suchen, dann sehnt man sich irgendwann nach Veränderung. 

Vor allem dann, wenn nichts passiert.

Ich benötigte also mal einen Tapetenwechsel.

Aus diesem Grund bin ich neulich nach Schillig gefahren.

Schillig liegt am anderen Ende der Ostfriesischen Halbinsel und gehört, politisch gesehen, zum Oldenburger Land. 

Lange war ich bis zu diesem Tag nicht mehr dort gewesen. Seit meinem letzten Besuch waren bestimmt sechs bis acht Jahre vergangen. Und wenn man einen Ort über einen längeren Zeitraum nicht besucht hat, dann fallen einem Veränderungen sofort auf.

Der Mensch scheint in vielerlei Hinsicht lernresistent zu sein und muss dieselben Fehler wohl immer wieder machen. Ich war entsetzt darüber, dass man die alten und so unauffälligen Kriegsbunker direkt am Deich inzwischen durch neue und auffallend bunte ersetzt hatte. Diese neuen Wohnblocks oder Bettenburgen prägen nun das Ortsbild von Schillig. Man kann sie schon aus großer Distanz in die Höhe ragen sehen. 

Dabei gab es doch mit dem Hotel Upstalsboom schon eine prominente Bausünde im Ort!

Es ist, wie es immer ist: Die Menschen können den Hals nicht vollkriegen und denken nicht an übermorgen. Es geht immer und überall nur noch ums schnelle Geld. Bilder vom Ortskern erspare ich euch also lieber. 

Interessant und erfreulich war, dass sich hinterm Deich kaum etwas getan hatte. Die beinahe ursprüngliche Landschaft mit ihren weiten Brachflächen, dem flachen und anscheinend nie versiegenden Strandsee, der fürs Festland beachtlichen Dünenkette sowie dem Ausblick aufs Meer hat mein Herz vorübergehend zum Hüpfen gebracht. Noch schöner wäre es natürlich gewesen, wenn ich mich in diesem Augenblick der Glückseligkeit auf Minsener Oog oder Mellum aufgehalten hätte. Diese beiden Eilande, die man von Schillig aus sehen kann und die für die Öffentlichkeit gesperrt sind, sind wahre Paradiese für Vogelgucker für mich.

Ich stiefelte also zum Strand, wo mir gleich diese auffällige Krähe begegnete:


the result of a relationship between a Hooded and a Carrion Crow

Es war eine Mischung aus Rabenkrähe und Nebelkrähe. Für eine reine Nebelkrähe war u. a. der Schwarzanteil auf der Unterseite viel zu hoch. 

Der wenig scheue Vogel war mit einer "reinen" Rabenkrähe liiert:


married with a "normal" Crow

Rabenkrähe und Nebelkrähe gelten seit einigen Jahren als zwei eigenständige Arten. Für mich handelt es sich in diesen Fällen aber nach wie vor um zwei Unterarten ein und derselben Art, eben der Aaskrähe

Bezüglich ihrer Verbreitung schließen sie einander aus und dort, wo ihre Areale aneinandergrenzen, vermischen sie sich munter und bekommen fruchtbare Nachkommen. Irgendwo habe ich mal vor ganz vielen Jahren gelesen, dass zum Beispiel Prärie-Goldregenpfeifer und Pazifischer Goldregenpfeifer, die lange Zeit als Angehörige einer Art ("Kleiner Goldregenpfeifer") gehandelt worden waren, jeweils Artstatus erlangten, weil man Gebiete entdeckte, in denen sie bis heute nebeneinander brüten und trotz räumlicher Nähe zueinander keinen gemeinsamen Nachwuchs zeugen.

In so einem Fall ist selbst für mich der jeweilige Artstatus absolut nachvollziehbar.

Ich verließ den Strand vorübergehend, um mal die Gebüsche des Deichvorlandes genauer unter die Lupe zu nehmen. Dort hatte ich vor ganz vielen Jahren mal einen geilen Seggenrohrsänger aufgescheucht, den ich aber leider nicht fotografieren konnte, weil sich der scheue Vogel rasch ins undurchdringliche Zweig- und Halmgewirr gestürzt hatte. 

Egal, jetzt entdeckte ich jedenfalls nur ein Rotkehlchen sowie einige Sing- und Rotdrosseln

Ich stand also da und guckte und guckte, als ich plötzlich mit bloßem Auge und in großer Entfernung einen kleinen Vogel auf der Spitze eines abgestorbenen Bäumchens stehen sah. Ich hielt einen Isabellwürger für möglich und hob in etwas übersteigerter Erwartungshaltung mein Fernglas an. Überrascht war ich schließlich, weil es sich bei dem Vogel nicht um einen Würger handelte. 

Es war ein Seidenschwanz!

Und unterhalb dieses Seidenschwanzes standen auf einem dürren Ast zwei weitere Seidenschwänze herum, die ich zuvor mit bloßem Auge gar nicht bemerkt hatte. Unglaublich schnell schälte ich meine Kamera aus meinem Rucksack hervor. Für ein Belegfoto sollte es reichen, so dachte ich. Doch ich war nicht schnell genug, denn alle drei Vögel flogen auf. Sie flogen auf und auf mich zu! Ich versuchte es mit Flugbildern, doch die Biester waren zu schnell für den lahmarschigen Autofokus meiner Kamera.

Und dann geschah das kleine Wunder. Als ich die Seidenschwänze bereits abgehakt hatte, weil sie zunächst über mich hinweggeflogen waren, machte einer der Vögel plötzlich einen Schlenker und steuerte einen verkümmerten Weißdorn ganz in meiner Nähe an. Die beiden anderen folgten ihm aus Herdentriebgründen. Es war unglaublich, aber der erste Vogel hatte die wenigen leuchtenden Früchte auf recht große Distanz im Fluge bemerkt.

Wie praktisch, dass ich die Kamera bereits in der Hand hielt:

record shot of my first Waxwings since at least ten years!

Seit meinem Umzug nach Ostfriesland vor etwa zehn Jahren war mir diese nordische und alljährlich nach Deutschland einfliegende Art nicht ein einziges Mal begegnet.

Und jetzt endlich diese drei Vögel in Schillig, die ich, ganz streng genommen, natürlich nicht Ostfriesland zuschanzen darf (siehe oben). 

Kaum hatte ich das gezeigte Bild im Kasten, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts eine Frau mit sage und schreibe fünf freilaufenden Hunden auf. Nervös gab ich ihr per Handzeichen zu verstehen, sie möge doch bitte umkehren oder wenigstens warten oder besser gleich im Boden versinken mit all ihren Vierbeinern, doch die Frau nahm mich zunächst überhaupt nicht wahr. Und als sie mich endlich entdeckte, war es bereits zu spät: Die Seidenschwänze flogen abermals auf und Richtung Ortschaft davon. 

Eine Nachsuche verlief nicht in meinem Sinne, doch immerhin stellte ich fest, dass das Nahrungsangebot in Schillig so schlecht noch nicht war für diesen Gast aus der Taiga. Es gab dort noch viele Früchte von Oxelbeere, Zwergmispel, Weißdorn, Schneeball sowie von Apfel und Birne. Dieser reich gedeckte Tisch gefiel auch einer männlichen Mönchsgrasmücke, die sich allerdings in einem Pfaffenhütchen aufhielt. Ob sie dort auch von den seltsam geformten Früchten genascht hat, konnte ich nicht erkennen. 

Den allerersten Seidenschwanz meines Lebens sah ich übrigens am 30. März 1991 im Garten meiner Eltern in Wallenhorst-Hollage. Der Vogel tauchte dort im Abstand von etwa einer Stunde gleich zweimal auf, um an unserem kleinen Teich zu trinken. Es folgten nur wenige weitere Beobachtungen, wovon die meisten auf Helgoland gelangen. 

Immerhin sah ich die Art aber noch ein zweites Mal im Landkreis Osnabrück: Am 15. November 2006 fielen mir gleich 22 Vögel an der Hemker Straße in Bramsche aus dem fahrenden Auto heraus auf, als sie sich im Kronenbereich einer Rosskastanie eine Pause vom harten Seidenschwanz-Alltag gönnten. Ich hielt an – und verzichtete auf Bilder, weil es stockfinster war an diesem Tag und der ästhetische Aspekt möglicher Aufnahmen ganz sicher auf der Strecke geblieben wäre. 

Ohne mich, das war damals mein Gedanke.

Raben und Krähen gehen immer so elegant und stolz:

same bird

Mit etwas Brot konnte ich dieses Prachtexemplar davon überzeugen, dass Kollaboration mit einem Zweibeiner nicht immer schlecht sein muss. 

Na ja, so richtig zahm war der Vogel nun auch wieder nicht.

Ich aber war zufrieden mit meinem Tag in Schillig:

chased by a third bird

Ich düste nach Norddeich, um mal nach beringten Lachmöwen zu gucken:

"seagulls" love bread

Während ich die Vögel fütterte, um sie besser knipsen zu können, sah ich aus dem Augenwinkel einen Wagen auf mich zukommen. Natürlich hielt er direkt vor meiner Nase. Die Scheibe der Beifahrertür senkte sich anscheinend von ganz allein. Jetzt, so dachte ich, bekomme ich eine Belehrung zum Nulltarif. Ich freute mich schon.

Ein Mann in meinem Alter: "Sie wissen, dass das Füttern der Möwen verboten ist?

Ich gab mich ahnungslos.

"Die finden da draußen genug zu fressen. Diese Viecher sind eine echte Pest und richtig gefährlich für die Kinder."

"Wo steht das denn?" fragte ich.

"Bitte?"

Ich ergänzte, um nicht missverstanden zu werden: "Wo das steht, dass das Füttern der Möwen verboten ist?"

Der Mann ließ nicht locker: "Das ist doch allgemein bekannt!

"Also", log ich, "davon habe ich noch nie etwas gehört. Und Schilder kann ich auch keine sehen."

Ich blickte mich demonstrativ nach allen Richtungen um.

"Und wir sind als Kinder auch oft von den Möwen beklaut worden. Alles, von Eis bis Pommes, haben sie uns damals weggenommen. Und selbst vor den Seesternen, die wir zum Trocknen auf den Strandkorb gelegt hatten, haben die Vögel nicht halt gemacht! Aber deshalb bin ich doch nicht traumatisiert. Und ich habe nie geweint, sondern stattdessen einfach besser aufgepasst. Das kann man übrigens selbst den Kleinsten beibringen."

Der Mann wurde jetzt etwas ungehaltener: "Sie hacken auf die Kinder ein, bis es blutet. Wenn man sie füttert, dann verändert sich das Verhalten dieser Viecher, sie werden zu einer echten Gefahr!"

"Das hatten wir schon", langweilte ich mich sichtlich.

Und ich schüttelte den Kopf und fragte ganz beiläufig: "Sagen Sie mal, der Imbisswagen da hinten, ist das etwa Ihrer?

Ich deutete in die entsprechende Richtung. Mir war natürlich klar, dass der Mann der Besitzer der fahrenden Imbissbude war, hatte ich ihn doch kurz vor unserem Aufeinandertreffen beim Abschließen der Tür beobachtet. 

Er fragte irritiert: "Was soll das denn jetzt?" 

"Sie, junger Mann", sagte ich etwas provozierend, ohne allerdings den Zeigefinger zu heben, "füttern die Touristen. Und die werden jedes Jahr mehr hier und auch ihr Verhalten lässt oft zu wünschen übrig. Sie sind laut und werfen ihren Müll überall in die Landschaft. Und sie stehen einem immer wieder blöd im Weg, wenn man es eilig hat. Am Aufkommen von weggeworfenem Müll kann ich inzwischen sogar erkennen, wann ein bestimmtes Bundesland Ferien hat."

Ich legte eine Kunstpause ein, während der Mann blöd glotzte. Dann versetzte ich ihm den Todesstoß: "Und was ist jetzt der Unterschied zwischen dem, was ich hier mache, und Ihrem Treiben? Ich sag's Ihnen: Sie verdienen daran, ich nicht. Wenn man mit irgendeiner bescheuerten Sache Geld verdienen kann, ist das automatisch okay. Das rechtfertigt alles."

Ich stand auf und packte meine Kamera ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich ging einfach und drehte mich nicht mehr um. Und ich musste lachen, weil mir natürlich klar war, dass ich etwas übertrieben, ja sogar deutlich übers Ziel hinausgeschossen hatte. Aber im Kern hatte ich auch ein bisschen Recht. 

Und das gefiel mir.


Knapp übers Ziel hinausgeschossen war am 1. November auch ein Nonnensteinschmätzer.  Ach, was wäre das lustig gewesen, wenn der Vogel bereits am Ostufer der Ems vom Himmel gefallen und somit auf ostfriesischen Boden geplumpst wäre. Doch er entschied sich dazu, den breiten Fluss noch zu überqueren, um dann am niederländischen Ufer runterzugehen. Entdeckt wurde der seltene Gast auf einer Brachfläche in Eemshaven, wo er auch gleich einige Tage verweilte.

Als wäre das noch nicht genug gewesen, tauchte ein weiterer NSS nur zwei Tage später auf Schiermonnikoog auf (Quelle: Dutch Birding)! Und schließlich wurde am 8. November ein junges Männchen westlich von Liverpool entdeckt. Dieser Vogel stellte den ersten Nachweis eines NSS für die Grafschaft Cheshire dar (Quelle: Surfbirds)!


So, Kinners, zum Abschluss kann ich euch noch einen adulten Wanderfalken zeigen, der sich oft im Bereich der Leyhörn-Seeschleuse aufhält und dort fast immer auf der für die Öffentlichkeit gesperrten Seite:

pretty preening Peregrine