Samstag, 26. September 2020

Merlin

Moin Kinners,

heute ist der Tag der Tage: Es gibt einen neuen Beitrag.

Und der handelt vor allem von einem Vogel, den ich hier schon des Öfteren gezeigt, aber nie so richtig vorgestellt habe. 

Es geht um den Merlin!

Der kleinste Falke Europas ist in Ostfriesland ein regulärer Durchzügler.

Der Heimzug erfolgt hauptsächlich im April, der Wegzug vor allem in den Monaten September und Oktober. Doch grundsätzlich kann der Merlin mit ganz viel Glück zu jeder Jahreszeit beobachtet werden, wobei  Nachweise im Juli wohl am seltensten sind. 

Immerhin gelang mir selbst genau so eine Feststellung: Am 8. Juli 2018 stand ein Merlin mit einem erbeuteten Kleinvogel mitten auf einem gepflasterten Weg in Deichnähe bei Pilsum. Leider hielt ich ihn mit bloßem Auge und aus der Distanz für einen Sperber. Erst als ich mich mit Corsilein weiter annäherte und der Vogel aufflog, erkannte ich, dass es sich um einen weibchenfarbenen Merlin handelte. 

Im Juli hatte ich diese Art einfach nicht auf dem Schirm.

So sieht ein zielgerichteter Blick aus:





Merlin, likely a young specimen

Am 13. September 2020 entdeckte ich diesen wahrscheinlichen Jungvogel neben der Straße, die durchs NSG Leyhörn führt. 

Der Merlin zeigte sich überraschenderweise wenig scheu und behielt einige Wiesenpieper im Auge, die hinter meinem Wagen auf dem Zaun standen und ihrerseits den Falken beobachteten. Leider konnte ich nur dieses eine Bild machen, denn kaum dass ich es im Kasten hatte, tauchte wie aus dem Nichts ein Radfahrer auf, der mein kleines Fotomodell vertrieb.

Pech gehabt. 

Der Lebensraum:


habitat

Links im Bild der Zaun, auf dem der Vogel stand, dahinter der Schardeich.

Bereits vier Tage zuvor hatte ich einen Merlin bei Hamswehrum fotografiert, der sich eine halbe Stunde lang mit einem Turmfalken kabbelte. Beide Vögel waren wohl Jungspunde, und was lag da näher, als eine Runde Fangen zu spielen:


likely a young Merlin was playing tag with a young Kestrel

Ständig ging es hin und her; Mal verfolgte der Turmfalke den Merlin, dann war es umgekehrt. Der Turmfalke war es auch gewesen, der den Anfang gemacht hatte. 

Mein Eindruck: Ihm juckte ganz gehörig das Fell. 

Am Ende standen beide Vögel nebeneinander auf dem Stoppelfeld und winkten mir zu. "Hast du alles im Kasten?" rief der Merlin. "Oder müssen wir noch eine Runde drehen?" ergänzte der Turmfalke. Ich zeigte mit meinem Daumen nach oben. Es war bedeckt und finster. Bessere Aufnahmen hätte ich unter solchen Bedingungen ohnehin nicht hinbekommen. 

Am 17. September 2020 stieß ich bei meiner morgendlichen Runde durchs NSG Leyhörn abermals auf einen jungen Merlin, der möglicherweise identsich mit dem ersten Indivduum war. 

Der Vogel war gerade dabei, seine Beute zu rupfen:



next Merlin with prey

Er stand mitten auf der Deichstraße und ließ mich ganz nah herankommen. 

Ich schoss einige Bilder, die auch scharf waren, doch zufrieden war ich mit dem Resultat natürlich nicht. Die Perspektive war scheiße. Ich hatte quasi senkrecht von oben nach unten fotografiert. Ein Unding, wie ich grundsätzlich finde. Etwa sechs Meter vom Vogel entfernt saß ich in meinem Wagen und überlegte, wie ich bessere Resultate erzielen konnte. Weder das Annähern mit dem Auto, das Herunterkurbeln der Scheibe (ja, bei Corsilein ist nix mit Elektrik) noch das Auslösegeräusch meiner Kamera hatten dem Merlin etwas ausgemacht. 

Also beschloss ich, den nächsten Schritt zu wagen: Ich stieg aus! Ganz langsam öffnete ich die Tür, um dann aus der Sicht des Vogels hinter ihr auf die Knie zu gehen. Nur einen Augenblick später lag ich auch schon auf dem Asphalt. 

Bei sechs Grad Celsius, in T-Shirt und kurzen Hosen und natürlich barfuß!

Ich zitterte, als ich die Linse anhob und die ersten Bilder schoss. Doch nicht etwa die Kälte war dafür verantwortlich, sondern einfach die Aufregung. Ja, Kinners, ich kann mich noch richtig über jede tolle Beobachtung im Outback freuen. 

Eben wie ein kleiner Junge. 

Ein Bild:


always the same specimen

Nach wenigen Sekunden der Supergau: Der Akku war leer!

Also ganz langsam wieder rein in die Karre und einen neuen besorgen. Weil das mit dem Zittern nicht aufhören wollte, schnappte ich mir bei dieser Gelegenheit gleich den ganzen Rucksack, der in der Vergangenheit schon so oft als Auflagefläche und somit als Stativ hatte herhalten müssen.

Der Vogel machte einfach ganz unbeeindruckt weiter:



Es war kaum zu glauben: ein zahmer Merln!

Es läuft bei dir, so dachte ich.

Ich rechnete mir schon ganz tolle Bilder aus. Auch davon, wie der Merlin einzelne Fleischstücke aus dem toten Körper herausreißen und wie er sich im Anschluss an die Mahlzeit ausgiebig putzen würde. 

Ja, ich freute mich. 

Allerdings zu früh, denn plötzlich entdeckte ich den Jogger, der da in etwa anderthalb Kilometer Entfernung auf den Vogel und mich zugelaufen kam. So eine Kacke, dachte ich, so früh am Morgen und trotzdem schon die ersten Idioten unterwegs. Ich machte weiter und gab alles, doch der Sportler schien sein Tempo noch zu forcieren. 

Schnell noch ein Bild vom Merlin: 


Und noch eins:


Hoffentlich, so dachte ich, kriegt das Arschloch einen Herzinfarkt. 

Jetzt ist die beste Zeit dafür, so dachte ich gehässig, nein, jetzt. Ich meine, der Idiot muss doch sehen, was ich hier mache. Jetzt, Herzklabaster. Aus und vorbei, ausnahmsweise mal im richtigen Augenblick, so dachte ich gebetsmühlenartig, während ich gleichzeitig meinen Zeigefinger krümmte und ein Bild nach dem anderen schoss.

Wenigstens die Kniescheibe könnte doch rausspringen, fiel mir spontan eine mildere Alternative ein, ich meine, ich würde dann auch die Ambulanz rufen, wenn ich hier alles erledigt habe. 

Versprochen.

Seht:


with male Chaffinch as prey

Hier kann man erkennen, dass die Beute mal ein quicklebendiger männlicher Buchfink war. 

Auf dem nächsten Foto sieht sie eher wie ein Miniatur-Brathähnchen aus, vor allem wegen des ausgestreckten und bereits rasierten Flügels: 


Der Jogger wollte partout nicht sterben.

Jedenfalls nicht jetzt. Ich spürte Wut in mir aufsteigen und überlegte, ob ich ihn nicht selbst töten solle, für den Fall, dass er mir tatsächlich die Sache vermasseln sollte. 

Dem Merlin war alles egal.

Er schaute aus seinen dunklen Augen zu mir herüber:


"Alles gut bei dir, Frank?"

Ich nickte. 

"Du siehst krank aus. Geh mal zum Arzt."

Dann blickte er über die Schulter Richtung Sonne, die zwar schon aufgegangen, aber aus seiner wilden Perspektive gar nicht zu sehen war, weil da der bescheuerte Deich im Weg stand:


Mein Zittern nahm wieder zu. 

Jetzt war es der Hass auf den Jogger, der mich fast wahnsinnig werden ließ. 

Der Merlin machte plötzlich einen langen Hals und nickte mit seinem Köpfchen, wie es alle Falken machen, wenn sie ein mögliches Beutetier entdeckt haben – oder einen Feind. Der Jogger war nicht gemeint, der war immer noch zu weit weg. Es war ein E-Bike-Fahrer, der sich fast lautlos von hinten an mich herangepirscht hatte, in diesem Augenblick an mir vorbeirauschte und den Merlin aufscheuchte. 

"Verfickt!" schrie ich laut auf. "Was für ein Arschloch!" 

Doch der Mann, der die Situation nicht erkannt hatte oder hatte erkennen wollen, war dem Anschein nach nicht nur blind, sondern auch taub. Ganz gelassen setzte er seine morgendliche Tour fort. "Das gibt es doch nicht!" regte ich mich auf: "Nicht einmal kurz nach Sonnenaufgang hat man hier die Möglichkeit, in Ruhe einen Merlin zu fotografieren." Ja, Kinners, das war eine einmalige Chance für mich. Und dieser Mann hatte soeben alles zunichte gemacht. Und das nicht einmal bemerkt! Hätte ich ihn früher entdeckt, dann hätte ich ihm einen Knüppel zwischen die Speichen seines Vorderrads geworfen. Das wäre eine geile Bruchlandung geworden. Überschlag zum Nulltarif und so weiter.

Preisgekrönt.

Aber so?

Deichfotografie, das könnt ihr nicht wissen, ist eine echte Herausforderung. Immer, aber wirklich immer kommt irgendein Vollpfosten vorbei, um mich auf die Palme zu bringen. Ich kann mich darauf verlassen. Es fehlt den meisten Menschen einfach an Sensibilität für das, was andere machen. Ich meine, ich liege mitten auf der Straße, mit einer Kamera in der Hand und einem Merlin fast in Reichweite, und trotzdem kriegt das keine Sau mit.  

Diese Arschkrampen erkundigen sich nicht einmal nach meinem Befinden.

Sie wollen nur stören, und sie machen das vorsätzlich. Und sie sind so furchtbar viele. Da ist in der Saison wirklich tagtäglich ein Riesenpeloton unterwegs, das von Wilhelmshaven im Osten bis nach Emden im Westen reicht. Ein geschlossenes Feld, eine einzige Blechlawine, wie auf der Autobahn, nur eben aus Zweirrädern bestehend. 

Und die Zahl dieser Zweirräder hat sich in den letzten Jahren auch noch verdoppelt oder gar verzehnfacht, seit sich ein Irrer die Sache mit dem Elektroantrieb ausgedacht hat. Jetzt können auch die unsportlichsten Menschen, die den ganzen Tag nur Schwarzwälder-Kirsch und Pommes fressen, eine Strecke von fünf Kilometern am Stück schaffen, ohne auch nur eine einzige Kalorie zu verbrennen oder gar zusammenzubrechen.

Fürchterbar.

Oh, ein Merlin: 




Wenn das Ganze aus ökologischer Sicht wenigstens ein Knaller wäre.

Aber die Energie, die hier genutzt und umgewandelt wird, stammt keineswegs nur aus regenerativen Quellen. Es ist nichts Anderes als eine Verlagerung des Schadstoffausstoßes und somit des Problems. E-Bikes haben mit normalen Fahrrädern so viel zu tun wie Hundekacke mit einer leckeren Tomatensoße.

Diese ganze Sache mit dem E-Motor ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen. Wenn wir wirklich etwas bewirken wollten, müssten wir nur weniger werden. Dann gäbe es weder Wohnungsnot noch verstopfte Straßen, und die geile Natur könnte endlich auch mal wieder so richtig aufblühen, weil wir dann nicht mehr jeden Quadratmeter für unsere Zwecke missbrauchen müssten. 

Ich fordere bezüglich der Bevölkerungsdichte isländische Verhältnisse für unsere geile Republik!

Aber ich bin da wohl der Einzige. 

Anderes Thema: Jan Weinbecker (Sandhatten) hat mir per Mail zu meinem Merlinfoto, das ich zuvor im Club300 hochgeladen hatte, gratuliert. Und mir geschrieben, es sei quasi eines Kopie eines Bildes, das er selbst vor satten 18 Jahren gemalt hatte:




Merlin, painted by Jan Weinbecker (Sandhatten)

Zum Vergleich das Foto aus dem Club: 

Die Ähnlichkeit lässt sich nicht leugnen, oder?

Und ich will zugeben, dass mir Jans Bild bekannt war. Ich meine, es war mal in einem OAO- oder OVO-Jahresbericht abgedruckt worden. Steht in meinem Regal, das Teil, aber ich gucke das jetzt nicht extra nach.

Jan hat mir so ganz nebenbei versichert, mich trotz meines offensichtlichen Diebstahls nicht zu verklagen, wofür ich ihm hier danken möchte. Und ich danke ihm dafür, dass ich sein Bild für diesen wieder einmal großartigen Beitrag verwenden darf.

Und als echter Künstler unterhält Jan Weinbecker natürlich auch eine eigene Internetpräsenz, die ich euch nicht vorenthalten möchte:  klick!

Kinners, ein Besuch lohnt sich. Es gibt dort viel zu entdecken!

Hier noch einmal die Gegenüberstellung: 


 


Genau in dem Moment, als ich in meinen Wagen stieg, tauchte der Jogger neben mir auf. 

Und dieser Jogger stellte sich jetzt bei genauerer Betrachtung als eine sehr alte Joggerin heraus!

Sie hob locker die Hand zum Gruß und lächelte mir im Vorbeilaufen zu. Und ich schämte mich sofort für meine Gedanken, die ich zuvor noch gedacht hatte. Obwohl, den Radfahrer würde ich schon ganz gerne noch einmal an mir vorbeifahren sehen, so dachte ich jetzt. 

Rechtzeitig und mit einem Besenstiel bewaffnet. 

Die ganze Geschichte ist ja jetzt schon wieder ein paar Tage her. Und mein Hausarzt meinte vorgestern, ich hätte alles gut überstanden. Und natürlich hat es seit diesem Tag weitere Begegnungen im ostfriesischen Outback gegeben, die mir Freude bereitet und so den Heilungsprozess beschleunigt haben.

Den folgenden Vogel aber hatte ich zuvor, nämlich bereits am 2. September in den Hauener Pütten entdeckt:


juvenile Red-necked Phalarope

Dieses junge Odinshühnchen schwamm unweit der Straße auf dem trüben Wasser und nickte dabei fleißig mit dem Kopf. 

Spätestens am 12. September wurden dort dann zwei Individuen gleichzeitig beobachtet, die bis zur Mitte des Monats an Ort und Stelle verweilten, nur um dann in der ersten windstillen Nacht aufzubrechen und ihre Reise nach Süden fortzusetzen. 

Löffler am frühen Morgen, wie man sie im September eigentlich immer in den Pütten beobachten kann:


Spoonbill

Kampfläufer im Nebel:




Ruff and other species

Kleine und große Enten:


Noch mehr davon:


waterfowl

Der berühmte Pislumer Leuchtturm aus eher ungewohnter Perspektive:


famous Pilsum lighthouse

Und zum Abschluss gibt es ein Foto vom morgendlichen Naturschutzgebiet Leyhörn:


open habitat of Merlin at so called Leyhörn

Schnell noch ein paar kostenlose Zusatzinformationen für euch: Der Merlin ist ganzjährig ein Bewohner halboffener bis offener Lebensräume. Im nordischen Brutgebiet kann er am Boden nisten, aber ebenso, wie einige andere Falken auch, hoch in einem Baum in einem verlassenen Krähennest oder so.

Während er auf dem Zug ausschließlich Kleinvögeln nachstellt, soll er im Brutgebiet aber auch ab und zu Kleinsäuger und noch seltener Insekten erbeuten. Interessant ist, dass europäische Merline Ortschaften komplett meiden, während sie es in Nordamerika Eckschwanzsperber und Rundschwanzsperber gleichtun und selbst in Hausgärten mitten in Siedlungen auf die Jagd gehen. Entsprechende Videos kann man auf Youtube finden. Ob dieses Verhalten aber für alle drei nordamerikanischen Unterarten gilt, ist mir nicht bekannt. 

Jede Begegnung mit einem Merlin stellt für mich tatsächlich etwas Besonderes dar. 

Unvergesslich wird es immer dann, wenn man diesem kleinen Greif bei der Jagd zusehen darf. Wohl nur der geile Baumfalke kann seinen etwas kleineren Vetter noch toppen in Sachen Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen. Als Kleinvogel stehen die Chancen jedenfalls schlecht, wenn da plötzlich ein Merlin auftaucht. Dann geht alles viel zu schnell und man wird einfach ergriffen und aufgegessen. 

Zack, Leben vorbei.

So wie jetzt auch dieser tolle Beitrag,