Mittwoch, 1. Januar 2020

Heidelerche

"Didlidü!"

Die Heidelerchen sind wieder da!

Am 18. Dezember sah ich sie zum ersten Mal auf einem Maisstoppelfeld auf dem Rysumer Nacken.

Dieser 18. Dezember muss auch der Tag ihrer Ankunft gewesen sein, war ich doch bereits am Vortag im Gebiet gewesen, um dort gezielt u. a. nach Heidelerchen zu suchen.

Wenn ich den Einleitungssatz mit einem bestimmten Artikel begonnen habe, dann geschah das nicht etwa aus einer Laune heraus. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass zumindest ein Teil der Vögel bereits den letzten Winter auf dem Rysumer Nacken verbracht hat.

Belegen kann ich das natürlich nicht. Da könnten nur Ringe weiterhelfen. 

Doch ich glaube nicht an Zufälle!

Das fast identische Ankunftsdatum (im Vorjahr war es der 14. Dezember), der exakt selbe Ort sowie die Tatsache, dass ich dort in den ganzen Jahren davor keine einzige winterliche Heidelerche beobachten konnte, sprechen aus meiner Sicht dafür, dass es sich hier um Rückkehrer handeln muss, die das Gebiet gezielt angesteuert haben, weil sie es bereits kannten.

Das ist und bleibt aber natürlich eine Vermutung:



the second consecutive winter a flock of Woodlark has chosen a certain mays field at so called Rysumer Nacken at the edge of the Ems estuary. Birds arrived on 18th December and hopefully are going to stay until at least the end of February. This species usually overwinters in France and on the Iberian Peninsula, but occasionally single specimens or small flocks can be found in Central Europe and elsewhere as far North as Denmark and the southern part of Sweden

Der 18. Dezember 2019 war ein sonniger und gleichzeitig sehr milder Tag.

Gegen Mittag parkte ich Corsilein neben dem Zaun des Gassco-Geländes und am Ende einer Sackgasse, die so gut wie gar nicht von lästigen Spaziergängern frequentiert wird. Zunächst ging ich, wie eigentlich immer, den Gassco-Zaun entlang und eine Hecke ab, die so breit ist, dass man sie schon fast als ein langes und schmales Gehölz bezeichnen könnte. Ich fand drei Zilpzalpe und später, auf einem angrenzenden Acker, zwei Bergpieper.

Es handelt sich hier übrigens um genau jenen Acker, auf dem ich im Herbst 2016 schon einen Bergpieper angefüttert und fotografiert hatte und auf dem mir vor einem Jahr meine ersten winterlichen Heidelerchen hier in Ostfriesland begegnet waren, die mindestens bis zum 19. Februar an diesem Ort blieben und somit erfolgreich überwinterten. Sie waren der Grund dafür, dass ich nun quer über diesen Acker stiefelte und das gleich mehrere Male hin und her.

Es war kaum zu glauben, als da plötzlich tatasächlich ein Trupp Heidelerchen vor mir aufflog!

Weil ich diesen Test schon am Vortag durchgeführt und keine Heidelerchen entdeckt hatte, gehe ich davon aus, dass die Vögel tatsächlich an diesem Tag im Gebiet angekommen waren, vielleicht in der vorausgegangenen Nacht oder am frühen Morgen.

Der Lebensraum, bei dem es sich um ein abgeerntetes und noch nicht umgepflügtes Maisfeld handelt:


a mays field, habitat of wintering Woodlarks 

Man sieht hier auch wieder den "Christstollen" im Hintergrund (vgl. einen der Bergpieper-Beiträge):

same

In der folgenden Woche kontrollierte ich den Acker mehrere Male.

Immer gelang es mir, die Heidelerchen nach nur kurzer Zeit ausfindig zu machen. Während ich sie an den ersten Tagen grundsätzlich erst dann entdeckte, wenn sie vor mir aufflogen, fand ich sie später allein durch geduldiges Absuchen des Ackers mit meinem Fernglas. Die Vögel sind wegen ihres kryptisch gezeichneten Gefieders ausgesprochen gut getarnt auf dem braunen Ackerboden, doch mit ein bisschen Übung fällt es mir inzwischen leicht, sie zu enttarnen, obwohl sie bei meiner Annäherung ganz gerne regungslos verharren, sich an den Boden drücken oder in einer Ackerfurche Schutz suchen.

Das sieht dann so aus:


Woodlark plays hide and seek with me

Weil es aber 15 Individuen sind, ist immer mindestens eines darunter, das es nicht rechtzeitig bis in die nächste Ackerfurche schafft:

cute Woodlark

Mein Vorteil!

Natürlich poppte sofort wieder die bereits im Vorjahr geborene Idee in meinem Hirn auf, Bilder von den Heidelerchen zu machen. Doch das würde nicht einfach werden, das wusste ich aus Erfahrung. Die Größe des Ackers beträgt mehrere Hektar, und die Heidelerchen nutzen den gesamten Raum. Nie kann man vorhersagen, wo genau sie sich in der nächsten Stunde oder am kommenden Tag aufhalten.

Schon im letzten Jahr war es mir nicht gelungen, die Vögel an einen bestimmten Platz zu binden, obwohl ich wirklich alles gegeben habe. X-mal hatte ich Mehlwürmer ausgelegt, doch bevor die Heidelerchen sie überhaupt finden konnten, befanden sie sich bereits im Magen zweier Rabenkrähen. Diese "schwatten Banausen" kriegen einfach alles mit, und am Ende war es wirklich so, dass sie mich bei jedem meiner Besuche aus sicherer Distanz beobachteten und dann nacheinander all die Orte anflogen, wo ich etwas ausgelegt hatte. 

Was also konnte ich tun?

Ich beschloss, mein Tarnzelt einfach so aufzubauen. Der passende Ort war ein Bereich des Ackers, wo ich die Heidelerchen schon einige Male gesehen hatte. Die ersten vier Versuche ging ich leer aus, doch beim fünften, das nehme ich jetzt mal vorweg, sollte es klappen. An diesem denkwürdigen Tag legte ich mich schon eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang auf meine Isomatte, um dann erst einmal einzupennen. Die Rufe überfliegender Heidelerchen ließen mich irgendwann aufschrecken. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, und ich blickte nach draußen, doch da stand kein einziger Vogel vor meinem Tarnzelt. Wenig später hörte ich die melodischen Rufe erneut. Doch auch diesmal flogen die Heidelerchen wohl nur über mich hinweg. Dann, nach einer weiteren halben Stunde, waren da wieder diese Stimmen zu hören. Beim Blick durch einen der Sehschlitze entdeckte ich den ersten Vogel. Er lief direkt auf mich zu! Ein zweiter tauchte auf, dann ein dritter. Und schließlich befanden sich da unglaubliche 15 Heidelerchen vor meinem Versteck!

Ich traute mich kaum, auf den Auslöser zu drücken oder auch nur das Objektiv einen Millimeter zu schwenken. Selbst die Atmung stoppte ich für drei Sekunden. Flog eine Heidelerche auf, das war mir klar, würden ihr alle anderen auf der Stelle folgen. Die Bindung der Vögel untereinander war und ist stark ausgeprägt. Ich durfte mir nicht den kleinsten Fehler erlauben. Doch natürlich lag ich da nicht ohne Grund auf meiner Isomatte. Und wenn man keinen Versuch wagt, kann man auch keine Bilder machen. Als sich irgendwann einer der Vögel eine Pause gönnte und einfach stehen blieb, sah ich meine Chance gekommen. Wie in Zeitlupe richtete ich die Linse aus, stellte scharf und drückte ab. Nur ein einziges Mal. Ich spürte das Adrenalin in meinem Körper. Die Heidelerche zuckte zusammen, blieb aber glücklicherweise stehen.

So niedlich sah sie aus:

Woodlark on early morning

Eine zweite:

Dieselbe:

Eine andere:

Und zwei auf einem Bild:

two together

Mir wurde bewusst, dass da gerade ein von mir lang gehegter Taum in Erfüllung gegangen war!

Das Herz schlug mir nach wie vor bis zum Hals. Und ich bin nicht mehr der Jüngste! Wenn ich also bald sterben sollte, dann bestimmt in so einem aufregenden Augenblick. Nie hätte ich erwartet, mal passable Bilder von dieser Vogelart machen zu können, ist die Heidelerche doch grundsätzlich nirgends häufig und in Ostfriesland nicht einmal ein Brutvogel. Immerhin taucht sie vor allem auf dem Rysumer Nacken nahezu alljährlich in kleiner Zahl als Durchzügler auf, vor allem in den Monaten Oktober und November. Solche Gäste halten sich hier in der Regel aber nur kurz auf, wenn sie überhaupt einmal eine Rast einlegen. Da ist natürlich nicht an schöne Bilder zu denken.

In meiner alten Heimat war das anders. Unweit des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Population auf einem Truppenübungsplatz, wo mir die Heidelerche bereits in sehr jungen Jahren erstmals begegnet ist. Es war damals der melancholische, gleichwohl sehr ansprechende Gesang der Vögel, der mich aufmerksam werden ließ. Ich erinnere mich, ich konnte mein Glück kaum fassen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich also die großartige Heidelerche gehört und gesehen, über die (sehr wahrscheinlich) bereits William Shakespeare geschrieben hatte! Fortan besuchte ich das Gebiet so oft ich konnte und ließ auch ab und zu einfach mal die Schule links liegen, um einen auf Naturforscher zu machen.

Die Heidelerche überwintert als Kurz- bis Mittelstreckenzieher vor allem in Frankreich und auf der Iberischen Halbinsel. Winterbeobachtungen kommen in Mitteleuropa immer mal wieder vor, während komplette Überwinterungen nur selten nachgewiesen werden.

Der niedliche Vogel mit der gestreiften Haube ist einer der großen Verlierer der durch uns Menschen verursachten Landschaftstransformation. Er stellt sehr hohe Ansprüche an seinen Lebensraum und besiedelt halboffene, meist sandige und mit einzelnen Büschen und Bäumen bestandene Flächen, die nach Möglichkeit nicht bewirtschaftet und gedüngt werden dürfen. Wie so viele andere an diesen Habitattyp angepasste Arten hat auch die Heidelerche in den letzten Jahrzehnten erhebliche Bestandseinbußen hinnehmen müssen. In Bezug auf sein Winterquartier ist der Vogel allerdings deutlich weniger anspruchsvoll. Dass die hier gezeigten Bilder aber ausgerechnet auf einem lebensfeindlichen Maisacker geschossen wurden, setzt dem Ganzen wirklich die Krone auf.

Es folgen zwei Bilder, die belegen, dass der einst so harte Dezember inzwischen zu einem Frühlingsmonat verkommen ist:

already spring?

Überall auf dem Rysumer Nacken treibt der Schwarze Holunder aus.

Gleiches gilt für die Kamtschatkarose. Auf dem Heidelerchen-Acker blüht die Geruchlose Kamille und auf angrenzenden Flächen die Gewöhnliche Schafgarbe.

Und während die einen bereits Frühlingsgefühle haben und fröhlich austreiben, haben andere ihre alten Blätter noch nicht einmal abgeworfen.

So wie diese Weide auf dem Gassco-Gelände:

this willow still refuses to lose her leaves

Eine Schwanzmeise der nordischen Unterart A. c. caudatus marodiert zurzeit zusammen mit acht Kumpels kreuz und quer über den Rysumer Nacken, von Zweig zu Zweig, von Busch zu Busch und von Gebüsch zu Gebüsch.

Im Gegensatz zu unseren heimischen Schwanzmeisen präsentiert sie einen komplett schneeweißen Kopf und zeigt darüber hinaus auch eine deutlich hellere Unterseite:




Long-tailed Tit likely of northern subspecies Aegithalos caudatus caudatus

Sind Schwanzmeisen weißköpfig, müssen sie aber nicht zwangsläufig aus dem Norden oder dem Osten stammen. 

Die Hybridisierungszone verläuft nämlich vor allem durch die gar nicht mehr so neuen Bundesländer, und gerade dort kann man das ganze Jahr über zumindest ähnliche Vögel sehen. Taucht hier in Ostfriesland aber ein ganzer Trupp weißköpfiger Individuen mit sehr heller Unterseite auf, kann man wohl davon ausgehen, dass er tatsächlich aus Skandinavien oder osteuropäischen Regionen jenseits von Polen stammt. 

Inzwischen haben sich diese nordischen Gäste mit streifenköpfigen Mitteleuropäern zu einem größeren Trupp vereint. Und wie bei den Heidelerchen ist die Bindung der Vögel untereinander sehr stark ausgeprägt, was u. a. die permanent geäußerten Kontaktrufe belegen. Wenn eine Schwanzmeise eine Freifläche überfliegt – das sieht sehr lustig und auch etwas unbeholfen aus –, dann folgen ihr die anderen ohne langes Zögern. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass diese so schwach wirkenden Federkugeln auf dem Zug mehrere hundert Kilometer zurücklegen oder gar übers offene Meer fliegen können. Doch tatsächlich wird die Schwanzmeise nahezu alljährlich auch auf Helgoland festgestellt! 

Ebenfalls auf dem Rysumer Nacken überwintern zurzeit eine Singdrossel sowie zwei Zilpzalpe. Auch ein possierliches Sommergoldhähnchen harrt noch an diesem Ort aus. Doch all diese Vögel sind in diesem Beitrag nichts anderes als Beifang.

Der Hauptdarsteller ist die Heidelerche:

pretty Woodlark

Nur zu gern würde ich wissen, ob es sich tatsächlich wenigstens zum Teil um dieselben Vögel wie im letzten Winter handelt. 

Vielleicht wäre es interessant, den ganzen Trupp zu fangen und die Heidelerchen zu beringen. Immerhin lag bis zum Erscheinen des entsprechenden Bandes der "Niedersachsen-Avifauna" im Jahr 2001 erst ein Heidelerchen-Ringfund mit Bezug zu diesem Bundesland vor: Ein am 29. Mai 1930 in der Nähe von Gifhorn nestjung beringtes Individuum wurde am 9. Februar 1931 973 Kilometer südwestlich des Beringungsortes in Frankreich "erbeutet", also wohl geschossen. 

Wie spannend wäre es, falls tatsächlich auch im nächsten Winter wieder Heidelerchen auf dem Rysumer Nacken auftauchen würden? Dann könnte man anhand ihrer Ringe Winterreviertreue nachweisen und mit noch viel mehr Glück sogar etwas über die Herkunft der Vögel in Erfahrung bringen. 

Das wäre doch auch in deinem Interesse, oder?

same

Ich bin gespannt, wie lange es die Vögel in diesem Winter am Rande des Ems-Ästuars aushalten werden.

Es ist wohl vor allem eine Frage der Witterung. Frost scheint einer Heidelerche grundsätzlich nicht viel auszumachen, doch im Falle einer geschlossenen Schneedecke wären die Tiere wohl dazu gezwungen, weiter nach Südwesten auszuweichen und somit das Gebiet in Wybelsum zu verlassen. 

same

Für mich ist es eine tolle Sache, (winterliche) Heidelerchen auf dem Rysumer Nacken beobachten zu können.

Ich wünsche mir einfach mal, dass die Vögel mindestens so lange dort verweilen wie die Heidelerchen vor einem Jahr. Gegen einen auch weiterhin schneefreien Winter hätte ich deshalb  ganz bestimmt nichts einzuwenden.