Freitag, 11. März 2022

Ein Haufen Steine (Teil 3)

Neulich, Kinners, stand ich mal wieder sinnlos auf dem Deckwerk bei Pilsum herum.

Während ich so nachdachte – ich weiß jetzt wirklich nicht mehr, worüber –, hörte ich mal wieder eine Stimme.

Meine Fresse, ich kann nicht mehr. Ich mühe mich voll ab hier und komme keinen Meter voran. Dabei möchte ich doch nur einmal am Deckwerk anschlagen, nur ein einziges Mal, dann ziehe ich mich auch wieder zurück. So wie ich es immer zweimal an jedem Tag mache. Stellt doch bitte endlich mal dieses bescheuerte Gebläse ab!

Die Stimme klang schwach, geradezu zerbrechlich.

Verdammt viel Sonne hat es hier in Ostfriesland in der vergangenen Woche gegeben. Und leider auch sehr viel Wind aus östlichen Richtungen. Keine einzige Wolke am Himmel. Gleich unmittelbar nach Sonnenaufgang grellstes Licht, wie ich es wirklich hasse. Ich hasse es, weil dieses Licht nichts taugt. An solchen Tagen kann man seine Kamera ruhigen Gewissens zu Hause liegen lassen.

Und so stand ich immer noch auf dem Deckwerk herum, unschlüssig und irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt. Doch trotz meiner Enttäuschung und der in mir hochkochenden Wut auf den verfickten Wettergott, der wieder einmal so kläglich versagt hatte an diesem Tag, fand ich noch tröstende Worte: „Da haben wir ja was gemeinsam. Wir beide werden heute die Ziele, die wir uns gesteckt haben, nicht in die Tat umsetzen können.

Das auflaufende Wasser wusste sofort, was ich meinte. 

Ein Strandpieper:

male Rock Pipit in breeding plumage 

Ein männlicher im Brutkleid noch dazu:

if not stated otherwise all images show the same specimen 

Diesen Vogel, der sich inzwischen vielleicht schon in Norwegen befindet, fotografierte ich am letzten Montag.

Und zwar hier:

my hide and a pile of paving stones in front of it. This pile often attracts birds like Meadow and Rock Pipit

Ihr kennt den Steinhaufen noch aus dem vergangenen Frühjahr. 

Damals wie auch heute habe ich am Fuße dieses Haufens eine nicht versiegende Futterquelle angelegt. Und der oben gezeigte Strandpieper war der Erstentdecker dieser kleinen Überraschung. Fortan verteidigte er sie mit Vehemenz gegen alle anderen Vögel, die auch nur annähernd so aussahen wie er selbst. 

Das ist immer so, wenn man Köder einsetzt. Leider, denn eigentlich möchte man mit seiner Kamera doch so viele verschiedene Individuen erwischen wie nur möglich. Das gelingt dann aber oft nicht, weil es eben ständig Kabbeleien gibt und am Ende nur noch ein Vogel auf dem Haufen steht.

In diesem Fall war das King:

only the Scandinavian subspecies A. p. littoralis has a true breeding plumage as shown in this blog post; specimens like this one with his bright rosy breast are very often mistaken for Water Pipit. But Water Pipit is generally lighter and his pattern looks "cleaner" with more contrast

Ihr seht, da befand sich noch Raureif auf den Steinen.

Ich wundere mich immer, dass so ein kleiner Vogel keine kalten Füße bekommt, wenn er da so herumsteht und singt.

I called this male King, because he managed to defend a never ending food source against many other Rock Pipits

Ja, King sang sehr fleißig, wenn er nicht gerade Artgenossen vertreiben musste oder sein zweites oder viertes Frühstück zu sich nahm.

Aber natürlich war es nur ein endloser Plaudergesang, den der Vogel von sich gab und den man nur aus geringer Distanz hören konnte. Vollgesang und Singflüge gibt es beim Strandpieper, wie übrigens auch beim Steinschmätzer und so vielen anderen Arten, nur im Brutgebiet.
 

Eigentlich heißt der Vogel natürlich nicht King.

Den Namen habe ich ihm verpasst, weil er doch immer alle Artgenossen maßregelte und dann ganz allein so schön auf dem Gipfel seines Haufens stand und sich die Morgensonne auf den Pelz brennen ließ. Einen Hermelin trug er aber nicht, denn grundsätzlich haben Vögel es nicht nötig, sich mit fremden Federn zu schmücken.

Ein ortsansässiger Wiesenpieper schaffte es trotzdem immer mal wieder, sich anzupirschen und Leckerbissen zu stibitzen:

Meadow Pipit, a local hero

Hier war er es sogar, der oben auf dem Haufen stand. 

Das war aber nur deshalb möglich, weil King gerade abgetaucht oder weggeflogen war.

Auf zwei Beinen stehend:

same

Wenn gerade mal gar kein Pieper vor meinem Tarnzelt abhing, fotografierte ich vorbeifliegende Nonnengänse:

pretty Barnacle Goose 

Die Vögel befanden sich gerade auf ihrem morgendlichen Weg vom Schlafplatz zum Futterplatz und flogen wegen des blöden und starken Ostwindes sehr niedrig über dem Watt:

same 

Der vorderste Vogel schrie: "Alles hört auf mein Kommando! Flügel hoch! Flügel runter! Immer im Wechsel und bitte synchron, Kinners!

Dann: "Da steht ein sympathischer Mensch mit einer Kamera, da wollen wir doch gut aussehen, nicht wahr?" Und nach kurzer Pause zischte der Anführer durch den geschlossenen Schnabel: "Und wenn ihr jetzt nicht pariert, dann werde ich euch gleich zusammenfalten! Aber so richtig!"

Ich fühlte mich auf der Stelle an meine Zeit bei der Bundeswehr erinnert und an jenen denkwürdigen Tag, an dem ich während einer Übung bei Garlstedt mein Gewehr verloren hatte und daraufhin ins Büro des Kompaniechefs beordert wurde. 

Der Tinnitus in meinem rechten Ohr hat aber eine andere Ursache.

Alle Gänse gehorchten, und vorübergehend gewannen die eingeschüchterten Vögel sogar etwas an Höhe:

same 

Viele Alpenstrandläufer taten es den Nonnengänsen gleich und schossen an mir vorüber:

Dunlin 

King:

King

Vögel wie dieser werden nicht selten für Bergpieper gehalten.

Viele Vogelbeobachter wissen nicht, dass auch der Strandpieper in ein richtig hübsches Prachtkleid mausern kann. Sie wissen es nicht,  obwohl es in den beiden gängigen Bestimmungsbüchern ("Svensson" und "Jonsson") sehr passende Bilder dazu gibt. 

Das trifft aber nur auf die skandinavische Unterart zu! 

Britische und bretonische Vögel sehen auch zur Brutzeit eher bescheiden aus; jedenfalls zeigen sie kein Rosa auf der Brust. 

Der Bergpieper wiederum, den man im Winter auch hier in Ostfriesland beobachten kann, nach heftigen Stürmen mit viel Regen auch zusammen mit dem Strandpieper bei der Nahrungssuche am Deichfuß, ist insgesamt deutlich heller und viel sauberer gezeichnet. Scheint die Sonne, dann leuchtet er richtig, sodass man ihn schon aus großer Distanz als Bergpieper bestimmen kann. Strandpieper wie King hingegen lassen diese Leuchtkraft vermissen. 

Hübsch ist er natürlich trotzdem:

Inwieweit sich dieses Prachtkleid bei skandinavischen Strandpiepern ausbildet, je nach Alter und Geschlecht, ist mir nicht bekannt. 

Ich weiß also nicht, ob Weibchen überhaupt eine rosafarbene Brust zeigen können.

Der folgende, relativ schlichte Vogel war jedenfalls auch ein Kerl:
 

another male, but only with few rosy feathers on his breast

Auch er sang ausgiebig, wenn King ihm in seiner grenzenlosen Großzügigkeit die Gelegenheit dazu ließ.

Oft kam das aber nicht vor:

same

Das Rosa auf seiner Brust war eher schwach ausgeprägt, und das gelbliche Morgenlicht der verficken Ostwindsonne hat die Farben etwas neutralisiert. Auf dem zweiten Bild, der Vogel stand hier im Schatten, kann man die Färbung der Brust aber erahnen. 

Möglicherweise hat es sich hier um ein Männchen im zweiten Kalenderjahr gehandelt. 

Belegen kann ich das aber natürlich nicht.

Oh, ein Schwarzkehlchen:

male Stonechat 

Natürlich ist das der Vogel aus dem letzten Bericht. 

Nachdem das Weibchen in der Nacht, in der Zeynep tobte, verschwunden war, fotografierte ich am darauffolgenden Tag zum letzten Mal auch dieses Männchen, denn nur einen Tag später konnte ich es nicht mehr am Ufer des Störtebekerkanals auffinden. 

Es sang ausgiebig, und für mich war das der Erstgesang dieser Art in diesem Frühjahr, doch inzwischen kann man Schwarzkehlchen wieder nahezu überall sehen. 

same 

Vor einer Woche war ich in Aurich.

Ich parkte Corsilein in der Tiefgarage am Markplatz. 

Ich hasse Tiefgaragen, wie ich auch hartnäckigen Ostwind hasse. Und so eilte ich schnell ins Freie. Ich stieg die Treppe hinauf, doch noch bevor ich den Marktplatz erreichte, fiel mein Blick auf die Blattrosette eines einsamen Hungerblümchens, das es sich in den Fugen zwischen den Steinen der Wand und etwa in Augenhöhe gemütlich gemacht hatte.

So:

Draba spec. 

Einen besseren Platz zum Hungern hätte es kaum finden können.

Ich zeige das Bild, weil es sehr schön den Widerstand der Natur illustriert. Den Widerstand geben die lästigen und alles zerstörenden Menschen. Nicht erst Tschernobyl hat eindrucksvoll gezeigt, wie schnell die Natur ein Gebiet, das die Menschen (nicht freiwiilig) verlassen haben, zurückzuerobern vermag. 

Das gibt mir Hoffnung. 

Auf der anderen Seite werden aber noch zahllose Tier- und Pflanzenarten für immer verschwinden, weil wir Menschen ihnen den Lebensraum nehmen (schaut euch in diesem Zusammenhang bitte mal auf Wikipedia die einstige und aktuelle Verbreitung aller Großkatzen an. Was ihr dort seht, lässt sich ganz zwanglos auf viele Tier- und Pflanzenarten auch in Deutschland übertragen. Der Grund dafür ist immer derselbe). 

Und diese ausgestorbenen Arten werden natürlich niemals zurückkehren. Wenn die Natur also am Ende obsiegen sollte, dann ganz bestimmt nicht mehr mit der zurzeit noch bestehenden Artenvielfalt.

Für die Bestimmung dieses Blümchens geht mein Dank übrigens an Kirsten Eta (Hamburch Ciddy)! 

Ein Dunkler Wasserläufer hielt sich einige Tage in den Salzwiesen bei Manslagt sowie im angrenzenden Watt auf:

Spotted Redshank – this specimen is either an early migrant or – more likely – has wintered in this area or close by 

Auf dem Bild sieht es so aus, als stünde der Vogel im dichten Gras.

Tatsächlich ruhte er am Ufer einer kleinen Wasserfläche, um dort alles vollzukacken. Wenn er aufflog, dann zog es ihn immer weit hinaus ins Watt. Und dort wiederum landete er immer zwischen diversen Enten, mal Stock-, mal Schnatter-, mal Löffel- oder Brandenten, selbst dann, wenn sich sonst kaum Vögel im Watt aufhielten. Dieser Dunkle Wasserläufer suchte also förmlich die Nähe zu irgendwelchen Enten, warum auch immer.

So sah das dann aus:

same 

Hier flog er gerade ab:

same

Am 24. Februar sah ich meine bislang letzte Spornammer:

male Lapland Longspur 

An diesem Tag war es stürmisch und zu allem Überfluss schüttete es noch aus riesigen Eimern.

Ich saß aber im Auto, und weil der Scheißwind ausnahmsweise mal aus der richtigen Richtung kam, konnte ich aus dem heruntergelassenen Seitenfenster beobachten, ohne dass es in den Wagen hineinregnete.  Gegen Regen von außen hat Corsilein nichts, aber er mag es einfach nicht, von innen nass zu werden.

Ob ich noch eine weitere Spornammer finden werde, noch bevor sich diese Biester auf den Weg zurück nach Norwegen machen werden?

 

Ein anderes Thema: 

Ich befinde mich im 55. Lebensjahr und somit schon auf der Zielgeraden. 

Und ich wette, dass es allein während meiner kurzen Lebensspanne kein einziges Jahr ohne einen sinnfreien Krieg irgendwo auf der Welt gegeben hat. Wirklich in den Fokus rücken solch schreckliche Ereignisse aber immer erst dann, wenn sie uns nahe kommen. 

So wie jetzt in der Ukraine.

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass er wichtig sein und anderen ungefragt den Weg aufzeigen will. Auch mit Gewalt. Das fängt am Gartenzaun an und hört an Staatsgrenzen nicht auf. Was zurzeit in der Ukraine passiert, ist einfach nur gruselig! Ich hoffe, dass die Menschen dort bald wieder ein normales Leben leben können.

Solche Ereignisse sind immer das  Ergebnis von Überheblichkeit und Ignoranz. Aus demselben Grund meinen viele Menschen, Tiere, die ihnen nicht in den Kram passen, aus dem Weg räumen zu müssen. In Wybelsum ist am Mittwoch-Morgen ein Wolf beim Überqueren der Kreisstraße von einem Autofahrer fotografiert worden. Zuvor hatte sich das Tier fast mitten im Ort blicken lassen. Und wiederum einen oder zwei Tage davor war ein Wolf bei Wirdum beobachtet worden. Vielleicht derselbe. Dort soll er auch Schafe gerissen haben. 

Solche Beobachtungen hat es schon des Öfteren gegeben, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern. 

Im rumänischen Brașov zum Beispiel ist es völlig gewöhnlich, dass sich Wölfe auch schon mal die wirklich hübsche historische Altstadt ansehen. Und Braunbären kippen dort Mülltonnen um oder klettern in Container, um nach Leckereien zu suchen. Ich bin selbst mehrere Male dort gewesen, doch damals ahnte ich noch nichs von den wirklich exklusiven Besuchern der Stadt. Noch nie ist es in Brașov zu Zwischenfällen gekommen, obwohl sich viele Menschen dort, vor allem Touristen, wie Idioten aufführen und die Tiere füttern. Für Klicks und Likes auf Insta oder Facebook oder Youtube tun wenig denkende Menschen halt alles. 

Der Wolf in Wybelsum hat natürlich auch für Reaktionen gesorgt. Besonders hervorgetan hat sich in diesem Zusammenhang eine Redakteurin der Emder Zeitung, die sich in ihrem unsachlichen Kommentar für eine Bejagung des Wolfes stark gemacht hat und dafür, dass das Schicksal deutscher Wölfe ganz allgemein in die Hände der Jägerschaften gelegt gehört. Ich zitiere: "Jäger sind die Fachleute. Sie kennen sich aus und haben Erfahrung mit diesen Dingen. Naturschutz ist ein sehr wichtiger Bestandteil der Jägerschaft."

Wenn das stimmt, dann ist die Erde doch eine Scheibe und Wladimir Putin ein lupenreiner Demokrat. 

Weiterhin schrieb diese Frau, wie es ja auch fälschlicherweise viele Jäger immer wieder behaupten, von einer ungebremsten Vermehrung des Wolfes und einer daraus resultierenden Gefahr für die Menschen. 

In diesem Land sind bislang nur Menschen durch Jäger zu Tode gekommen, etliche Male sogar an der Jagd völlig unbeteiligte Bürger! 

 

Zurück zu ihm hier:


King

Wenn King mal nicht sang oder nicht speiste, dann putzte er sein hübsches Gefieder:




Jede einzelne Feder muss perfekt liegen, sonst wird das nüscht mit dem Langstreckenflug.

Denn als Strandpieper, der in der Krummhörn überwintert, hat man ja schließlich noch eine weite und gefährliche Reise vor sich. 

Die ersten Strandpieper tauchen bereits Ende Februar im norwegischen Brutgebiet auf, die meisten folgen im März, Nachzügler dann im April und unverbesserliche Trödelköppe vielleicht sogar erst im Mai. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass auch King bereits im Brutgebiet angekommen ist, denn nur einen Tag, nachdem ich diese Bilder gemacht hatte, war er nicht mehr aufzufinden am Steinhaufen.

Mich würde mal interessieren, welche Route die Vögel nehmen. Wählen sie etwa die kürzeste Strecke, also die Luftlinie, und überqueren so die Nordsee? Das wäre immerhin ein Nonstopflug von gut 500 Kilometern über das offene Meer! Oder ziehen sie zunächst unsere Küste entlang nach Osten, um sich dann in Schleswig-Holstein einzunorden und über Dänemark und das Skagerak ihre Heimat anzusteuern? 

Niemand weiß das.

Jedenfalls sind das heute und für immer die letzten Bilder, die ich von King zeigen werde:

Mit fetter Beute:


with lecker Mealworm

Woher hatte er die bloß?

Auch hier putzte King sich noch einmal ausgiebig:


Und auf dem folgenden Bild sieht man förmlich, wie er von seiner nur dünn besiedelten und deshalb so schönen Heimat träumte:

Schon mal gucken, wo es morgen lang geht:


Du bleibst aber hier, du kleiner Wiesenpieper:


Meadow Pipit 

Du bist nämlich ein süßer und vor allem echter Ostfriese:

same

Das war's schon wieder, ihr lieben Menschen da draußen.

Vielleicht gelingen mir ja noch weitere Bilder von prächtigen oder schlichten Strandpiepern auf dem Steinhaufen am Rande der Salzwiesen bei Pilsum oder gar von einem Vogel, von dem ich jetzt noch gar nicht weiß, dass er eines Tages dort auftauchen wird.

Mal schauen...